Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Grüne wollen "neutral" bleiben

Wahlkampf in Brasilien: Partei von Marina Silva will keinen der beiden Präsidentschaftskandidaten unterstützen

Von Johannes Schulten *

Das Rennen um den nächsten brasilianischen Präsidenten bleibt spannend. Knapp zwei Wochen vor der entscheidenden zweiten Runde hat die Grüne Partei bekanntgegeben, keinen der beiden Kandidaten zu unterstützen. In einer parteiinternen Befragung am Sonntag hatten sich 88 der 92 Delegierten dafür ausgesprochen, weder zur Wahl der Kandidatin der Arbeiterpartei (PT), Dilma Rousseff, noch ihres Herausforderers von der sozialdemokratischen PSDB, José Serra, aufzurufen.

Die Stimmen der Grünen-Wähler gelten als wahlentscheidend. Rousseff hatte die erste Runde am 3. Oktober mit knapp 47 Prozent der Stimmen zwar klar vor Serra entschieden, der auf gut 33 Prozent kam. Die für einen Sieg nötigen 50 Prozent hatte sie aber verpaßt. Die Grünen-Kandidatin Marina Silva war überraschend auf 19 Prozent gekommen.

Die Grüne Partei, die bis zur Aufstellung der ehemaligen Umwelt- und Energieministerin im Kabinett von Präsident Luis Inácio »Lula« da Silva als Kandidatin wenig bekannt war, gilt als konservativ. Außer der Kritik an den ökologischen Folgeschäden der Wachstumspolitik der PT-Regierung spielen vor allem religiöse Themen wie die Verurteilung von Abtreibungen eine Rolle. Fragen der sozialen Gerechtigkeit oder Wirtschaftspolitik kommen im Programm praktisch nicht vor. Neben vielen enttäuschten PT-Wählern wird ihre Basis von den evangelikalen Freikirchen gestellt. Deren Einfluß ist enorm, etwa 25 Prozent der brasilianischen Bevölkerung gehören einer der zahlreichen Freikirchen an.

Eine Untersuchung des »Lateinamerikanischen, sozialwissenschaftlichen Insituts« (Flacso) hatte ergeben, daß das die undeutliche Position Rousseffs zu Fragen der Abtreibung und zur Heirat von Homosexuellen ursächlich für ihren verpaßten Wahlsieg war. Rousseff spricht sich zwar seit September öffentlich gegen eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen aus, galt bis dahin aber als Abtreibungsbefürworterin.

Das Votum der Grünen-Delegierten für »Neutralität« stellt allerdings jedem Parteifunktionär frei, sich persönlich in den Wahlkampf einzumischen. Bereits am Sonntag machten zwei hochrangige Mitglieder der Grünen von dieser Möglichkeit Gebrauch und warben auf einer Wahlkampfveranstaltung von Serra für dessen Kandidatur.

Dessen Partei hat derweil für einen handfesten Skandal gesorgt. Wie am Montag von der Regierung bekanntgegeben wurde, hatte die katholische Kirche zwei Millionen Flugblätter drucken lassen, auf denen polemisch vor einer Wahl Rousseffs gewarnt wurde. Das brisante an dem Aufruf ist, daß er von einer der PSDB nahestehenden Druckerei gedruckt wurde. Deren Hauptteilhaberin Arlety Satiko Kobayashi ist nicht nur langjähriges PSDB-Mitglied, ihr Bruder ist auch der technischer Koordinator im Wahlkampfteam von Serra.

Rousseff wertete den Vorfall als »klaren Verstoß gegen die Wahlkampfregeln«. Es gebe »gewichtige Hinweise, daß die Pamphlete für den Wahlkampf unseres Gegners gedruckt worden sind«, sagte einer ihrer Sprecher am Sonntag gegenüber Medien.

Neben der Religion und der Ökologie ist die Sicherheit zum bestimmende Wahlkampfthema geworden. In der TV-Debatte der Kandidaten am Sonntag abend gab Serra einen Vorgeschmack darauf, was von ihm als Präsident zu erwarten ist. Das Thema müsse endlich auf nationaler Ebene angegangen werden. Er werde sich daher für die Gründung eines Ministeriums für nationale Sicherheit einsetzen. Schätzungen gehen davon aus, daß jeder zehnte Brasilianer eine Waffe besitzt. In keinem Land der Welt sterben so viele Menschen durch Feuerwaffen wie in Brasilien.

* Aus: junge Welt, 20. Oktober 2010


Zurück zur Brasilien-Seite

Zurück zur Homepage