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Im Amazonasgebiet gilt das Recht des Stärkeren

Nichtregierungsorganisation Gesundheit und Freude leistet Schwachen Unterstützung

Von Astrid Schäfers *

Brasiliens Regierung hat sich unter dem Präsidenten Lula formell dem Schutz der Artenvielfalt und des Regenwaldes verschrieben. Doch bis heute herrscht im Kampf um Land und Waldressourcen de facto das Recht des Stärkeren.

Der brasilianische Agrarminister Reinhold Stephanes macht keinen Hehl daraus, dass es ihm nicht um den Schutz des tropischen Regenwaldes, sondern um den Schutz des Agrobusiness geht, also darum, dass Großgrundbesitzer und Agrarunternehmen am Amazonas möglichst ungestört ihren Aktivitäten nachgehen können. Im Klartext bedeutet das Abholzung.

Nach heftigen Debatten in der Öffentlichkeit und scharfer Kritik brasilianischer Umweltschutzorganisationen wurde die Abstimmung über den von Stephanes vorgelegten Gesetzesentwurf im Abgeordnetenhaus auf Juli 2009 verschoben. Stephanes fordert in der neuen Fassung weiterhin die Aufhebung der Schutzgebiete. Landwirtschaftliche Aktivitäten und Viehzucht sollen in bisher geschützten Bereichen erlaubt werden, wie etwa in Tälern, an Flussläufen und auf Bergkuppen.

»Sollte dieser Gesetzesentwurf gebilligt werden, so wäre dies ein Desaster für den Regenwald am Amazonas, für das globale Klima und den Erhalt der Artenvielfalt«, erklärte Tobias Riedl, Waldexperte von Greenpeace, in einem Artikel der Organisation. Ob der brasilianische Präsident, Luiz Inácio »Lula« da Silva, bei der Abstimmung im Juli von seinem Veto Gebrauch macht, ist fraglich, auch wenn er Mitte Februar immerhin ein Regenwaldgebiet unter Schutz gestellt hat, das der doppelten Fläche Belgiens entspricht.

Im Jahr 2007 hatten sich die Abholzungen im tropischen Regenwald gegenüber 2004 vervierfacht. 2008 wuchs die gerodete Fläche um 11 986 Quadratkilometer, eine Fläche in der Größe von mehr als drei Vierteln der Schweiz.

Holz-, Vieh- und Sojaindustrie operieren völlig unkontrolliert auf Land, das offiziell dem Staat gehört. Im Kampf um Land und Waldressourcen herrscht bis heute das Recht des Stärkeren. Der Kautschuksammler Chico Mendes, der 1988 ermordet wurde, weil er sich Großgrundbesitzern im Bundesstaat Acre widersetzte, ist das Symbol für die unterdrückte Bevölkerung des Amazonasgebietes. Bis heute spielen die Bedürfnisse der Bevölkerung kaum eine Rolle, vielmehr werden sie den Interessen von Großgrundbesitzern, Holzhändlern und multinationalen Unternehmen unterworfen.

»Die Holzfäller gibt es hier schon seit Brasiliens 'Entdeckung' vor 500 Jahren. Immer wenn es um irgendein Projekt im Regenwald geht, fällt zuerst der Wald. Die Tradition der Menschen hier ist der Extraktivismus, sie leben von Öl, Früchten, von der Jagd, kleiner Landwirtschaft, vom Fischfang, aber die Ressourcen nehmen stark ab«, erzählt Magnolio de Oliveira, Leiter der Nichtregierungsorganisation Saúde e Alegria (Gesundheit und Freude) in Santarém, der Hauptstadt des Bundesstaats Pará.

Auffällig in Santarém sind die importierten Luxuswagen und die vielen blonden und hellhäutigen Menschen, die keine Touristen zu sein scheinen. Viele sind wegen dem Holz hier, so wie der Vater von Gabriel, der aus dem südöstlichen Bundesstaat Paraná mit seinem Holzunternehmen hierher kam. »Mein Vater arbeitet nach dem Gesetz, denn nur die Abholzung von Mahagoni ist verboten. Verantwortlich für die Abholzungen sind aber eigentlich die Großgrundbesitzer, denen er das Holz abkauft«, erklärt er dem ND.

Saúde e Alegria setzt sich seit 20 Jahren für 150 Flussgemeinden im Bundesstaat Pará ein, die am Rande des Flusses Tapajós leben. Inzwischen ist es der Organisation gelungen, dazu beizutragen, dass einige Flussgemeinden von Handwerk und kleinbäuerlicher Landwirtschaft leben, die nicht die gesamte Abholzung des Waldes erfordern. »Wir haben geschafft, dass die Holzunternehmen sich von den Flussgemeinden fernhalten. Wenn sie illegal abholzen, denunzieren die Gemeinden das anonym mit Hilfe eines Blogs im Internet, den wir für sie eingerichtet haben. Manche Gemeinden sind leider schon beeinträchtigt worden. Es kommt oft vor, dass sich Gemeinden nach der Abholzung auflösen, weil es nichts mehr gibt, wovon sie leben könnten. Von einigen Familien arbeiten die Söhne für Holz- und Sojaunternehmen. Andere verkaufen ihr Land für wenig Geld, gehen in die Städte und leben dort in miserablen Verhältnissen«, erzählt Fabrício Pellegrino, der für Saúde e Alegria arbeitet.

Die gesundheitliche Versorgung ist ein großes Problem in den Flussgemeinden. Vor 20 Jahren bestand das Projekt Saúde e Alegria nur aus einem Boot, das, ausgestattet mit einem Arzt und den nötigsten medizinischen Instrumenten, die Bewohner des Tapajós besuchte und versorgte. »Die meisten Gesundheitsprobleme hier sind infolge von verschmutztem Wasser entstanden, das die Bewohner getrunken haben«, erklärt Magnolio Oliveira, der Gründer der Nichtregierungsorganisation (NRO). Mitarbeiter der NRO haben in einigen Gemeinden inzwischen ein Wassersystem eingerichtet. »Wir haben dort das Material hingebracht, aber sie haben die Löcher gebohrt, um die Wasserleitungen zu legen. Sie verwalten das System selbst, wenn es kaputtgeht, müssen sie es selbst reparieren, das heißt sie müssen lernen, es zu erhalten. Das ist eines unserer Ziele, dass sie unabhängig sind und eine bessere Lebensqualität haben, um für ihre Rechte kämpfen zu können. Wenn ein Politiker dorthin kommt und ihnen ein Wassersystem verspricht, finden sie das gut, sie müssen aber wissen, dass sie ein Recht darauf haben«, so Magnolio. Nur so können verbriefte Rechte eingefordert und irgendwann Wirklichkeit werden.

* Aus: Neues Deutschland, 31. März 2009


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