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Krise, welche Krise?

Brasiliens Präsident "Lula" da Silva sieht sein Land auf der sicheren Seite. Vorgänger Cardoso hingegen will Finanzmärkte reglementieren

Von Peter Steiniger, Brasília *

Die Debatte über Risiken aus der internationalen Finanzmarktkrise für die einheimische Konjunktur wollte Brasiliens Präsident am liebsten von sich abperlen lassen: »Was für eine Krise? Fragt den Bush danach!« beschied Luiz Inácio »Lula« da Silva noch Mitte September der Presse. Kurz vor den anstehenden landesweiten Kommunalwahlen sollte das Bild vom ungebremsten Aufschwung nicht getrübt werden.

Denn der Motor der weltweit zehntgrößten Volkswirtschaft brummt unter der Regierung des ehemaligen Maschinendrehers von der Arbeiterpartei (PT). In erster Linie wird er von der gewachsenen Nachfrage nach Rohstoffen und Agrarerzeugnissen auf dem Weltmarkt gespeist. Innerhalb von nur zwei Jahren haben sich die Exporte mehr als verdoppelt.

Wirtschaft gut erholt

Das sah schon einmal ganz anders aus: Vor einem Jahrzehnt geriet Brasilien in den Strudel der Finanzmarktkrisen in den asiatischen Tigerstaaten und Rußland. Das Leistungsbilanzdefizit (Saldo der Exporte und Importe aller Waren und Dienstleistungen) stieg sprunghaft an. Als eines der größten Schuldnerländer hing das Land am Gängelband von Internationalem Währungsfonds und Weltbank. Noch im Jahr 2002 bewahrte nur ein 30-Milliarden-Dollar-Superkredit das Absaufen Brasiliens in eine tiefe Konjunkturkrise.

Mittlerweile ist das Land nicht nur schuldenfrei. Positive Zahlungsbilanzen erlaubten es, bei der Zentralbank stattliche Devisenreserven anzuhäufen - derzeit etwa 200 Milliarden US-Dollar. Mit der Gründung der Bank des Südens - gemeinsam mit Argentinien, Venezuela, Bolivien, Ecuador, Paraguay und Uruguay - wurde die Unabhängigkeit von IWF und Weltbank zementiert. Neben ihren entwicklungspolitischen Aufgaben bei öffentlicher Infrastruktur und in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen stellt sie ein mögliches Instrument dar, um Krisen gemeinsam besser abwehren zu können.

Die Regierung schätzt die Lage nach den Worten von Präsidialamtsministerin Dilma Rousseff so ein, daß Brasilien genug Widerstandsfähigkeit besitzt, um sein Finanzsystem intakt zu halten. Die internationalen Turbulenzen würden sich nur vorübergehend und geringfügig auswirken, »als ein kleiner Infekt«. Lula selbst bleibt dabei, daß Brasilien weit genug von deren Epizentrum entfernt ist. Zwar sei diese Krise in den USA »ein Tsunami«, erklärte der Präsident am 4. Oktober. Er fügte aber hinzu: »Wenn sie hier ankommt, wird sie eine kleine Welle sein, auf der man nicht einmal Wasserski fahren kann.«

Die bürgerliche Opposition läuft gegen diese Haltung Sturm und wirft der Staatsführung Blindheit und Passivität vor. Sie unterschätze die Gefahren aus der internationalen Finanzkrise und einer möglichen weltweiten Rezession. Expräsident Henrique Fernando Cardoso, graue Eminenz der sozialdemokratischen PSDB, malt ein düsteres Szenario: »Das Meer ist aufgewühlt, und die Fluten werden hier hereinbrechen.« Der mittlerweile 77jährige Soziologe hatte von 1995 bis 2002 das höchste Staatsamt inne. Als Finanzminister war er zuvor federführend beim Stabilitätsprogramm Plano Real, mit dem der Hyperinflation ein Ende bereitet werden konnte. Cardoso verwindet es nur schwer, daß die Prosperitätsphase erst mit der Ära seines Nachfolgers anbrach. »Präsident Lula prahlt viel«, so Cardoso. Doch er werde schnell einsehen, daß es unsinnig sei zu denken, »daß wir uns auf einer Insel der Konjunktur befinden«.

Erste Maßnahmen

Die Regierung reagierte auf die von den weltweiten Hiobsbotschaften nicht unbeeindruckte öffentliche Meinung. Lula möchte nun den Nationalkongreß -- das brasilianische Parlament -- in die Diskussion, wie den Auswirkungen der Krise zu begegnen ist, stärker einbeziehen.

Erste Maßnahmen sind bereits getroffen: Da brasilianische Banken -- soweit bekannt -- nicht in das Geschäft mit luftigen US-Hypothekenkrediten verwickelt sind, droht vor allem indirekt, durch eine mögliche Lähmung des Kreditverkehrs, Gefahr. Die Exportbranche ist auf Darlehen angewiesen. Gerade im Agrobusiness werden Saatgut, Dünger und Chemikalien zur Schädlingsbekämpfung oft mit Fremdmitteln vorfinanziert. Die staatlich gelenkte »Banco do Brasil« stellte hierfür jetzt fünf Milliarden Reais (etwa 1,7 Milliarden Euro) in Aussicht. Des weiteren wird die gesetzliche Zwangseinlage der Kreditinstitute bei der Zentralbank reduziert, um die in der Wirtschaft zirkulierende Geldmenge anzuheben. Auch wird eine geplante zweistufige Erhöhung des Steuersatzes für Leasinggeschäfte verschoben.

Cardoso indes glaubt nicht daran, daß der kommenden Sturmflut mit nationalstaatlichen Instrumenten beizukommen ist. Er sieht die Zeit für ein neues Bretton Woods gekommen, eine Neuordnung des weltweiten Währungssystems wie auf der Konferenz von 1944. »Wir brauchen universell geltende Regeln, die nicht allein von den USA bestimmt werden.« China, Europa und Schwellenländer wie Indien und Brasilien müßten einbezogen werden.

* Aus: junge Welt, 13. Oktober 2008


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