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Brasilien entwaffnet sich

Die Bevölkerung kann per Referendum dem legalen Waffenhandel das Handwerk legen

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre*

In vier Wochen findet in Brasilien eine Volksabstimmung über ein Verbot des Waffenhandels statt. Nach einer Entwaffnungskampagne kann die Regierung schon jetzt ermutigende Zahlen vorweisen.

Antanas Mockus ist begeistert. »Mit dem Referendum über ein Verbot des Waffenhandels wird Brasilien zum Vorbild für die ganze Welt«, sagte der zweimalige Bürgermeister von Bogotá kürzlich auf einem Bildungskongress in Porto Alegre. Bereits 1996 hatte der Pädagoge und Philosoph in der kolumbianischen Hauptstadt vorexerziert, was seit Juli 2004 Regierungspolitik in Brasilien ist: Gegen eine Stückprämie von umgerechnet 33 bis 100 Euro sammeln die Behörden Schusswaffen ein.

Mit überraschender Resonanz: Das ursprüngliche Ziel von 80 000 wurde bereits innerhalb von zwei Monaten erreicht. Nach mehrmaliger Verlängerung ist man bislang bei gut 460 000 angekommen.

Dabei liegt der Schwerpunkt der Kampagne nach Angaben von Justizminister Márcio Thomaz Bastos nicht auf der Verbrechensbekämpfung, selbst wenn es Kriminelle jetzt schwerer haben, zumindest an legale Waffen zu kommen. Vielmehr gehe es um die Entwaffnung der Bevölkerung, damit immer weniger Streitfälle zwischen Freunden, Ehepartnern, Jugendlichen oder Fußballfans tödlich enden.

Auch Bastos hat allen Grund zur Zufriedenheit: Im vergangenen Jahr seien in Brasilien 8,2 Prozent weniger Menschen erschossen worden als 2003. Damit sei die Anzahl der Todesopfer durch Schusswaffen erstmals seit 1992 auf insgesamt 36 091 zurückgegangen, heißt es in einer kürzlich vorgestellten Studie des Gesundheitsministeriums.

Justizminister Bastos, einer der Hauptverantwortlichen für neue Akzente in der Sicherheitspolitik, führte den Rückgang auf die Entwaffnungskampagne zurück: »Wir feiern eine Politik, die funktioniert – und die Rettung tausender Menschenleben. Im ganzen Land ging die Zahl der Opfer um 3234 zurück, allein im Bundesstaat São Paulo um 1960, in Rio de Janeiro um 672. Die nördlichen Bundesstaaten Amazonas und Pará liegen mit Zuwachsraten von 29 bzw. elf Prozent am weitesten weg vom Bundestrend.«

Mit der offiziellen Zahl von 36 000 Toten behauptet sich Brasilien weltweit immer noch auf Platz zwei – nur in Venezuela liegt die Mordrate noch höher. Unter den 15- bis 29-jährigen Männern sind Schüsse noch immer die häufigste Todesursache. Die Entwaffnungskampagne und die schärfere Verfolgung des unerlaubten Waffenbesitzes seien die einzig neuen, ermutigenden Zeichen in einem »schrecklichen Panorama«, meint der Forscher Julio Jacobo Waiselfisz. Der Politologe Túlio Kahn ist zuversichtlicher: Sozialpolitische Maßnahmen in Elendsvierteln und die verstärkte Beschlagnahmung illegaler Waffen zeigten ebenfalls Wirkung. »Der jetzige Rückgang muss vor allem bei den Verbrechen aus ›nichtigen Gründen‹ stattgefunden haben, die von ›guten‹ Bürgern begangen wurden«, vermutet Kahn. In São Paulo etwa setzte der Rückgang bereits 1999 ein.

Auch in Bogotá, berichtete Ex-Bürgermeister Mockus, war die Entwaffnungskampagne nur ein Baustein in einer umfassenden Neuorientierung der Sicherheitspolitik. Mit beeindruckenden Ergebnissen: Wurden 1993 noch 80 von 100 000 Einwohnern ermordet, waren es 2004 nur noch 22.

Für Jorge Werthein von der UNESCO belegen die neuen Zahlen aus Brasilien, dass vorbeugende Maßnahmen effektiver seien als repressive – und billiger obendrein. Am 23. Oktober mündet die Kampagne in eine weltweite Premiere: die von Mockus gefeierte Volksabstimmung über ein generelles Verbot des Waffenhandels. Umfragen sagen einen klaren Erfolg der Friedensbewegung voraus, die in den urbanen Mittelschichten besonders stark ist und für das Verbot mobilisiert.

Auch die Landlosenbewegung MST produziert Aufklärungsmaterial und will am Tag des Referendums vor den Abstimmungslokalen für ein Waffenverbot werben. »Das ist ein zivilisatorisches Projekt«, sagt Chefkoordinator João Pedro Stedile. Opfer seien vor allem arme schwarze Jugendliche der Elendsviertel. Ein Waffenverbot ist für ihn ein erster Schritt: »Dann müssen wir dafür sorgen, dass diese Menschen eine Zukunft in unserer Gesellschaft bekommen.«

Die Waffenlobby allerdings gibt sich noch nicht geschlagen: »Unbescholtene Bürger müssen auch weiterhin ein Recht auf Notwehr haben«, fasst Carlos Murgel von der Pistolenfabrik Taurus in Porto Alegre eine weit verbreitete Haltung zusammen. Und die waffenfreundliche »Front der Parlamentarier für das Recht auf Notwehr« verkündet trotzig: »Nein sagen ist ein Bürgerrecht.« Im Oktober bekommen beide Seiten kostenlose Werbezeit im Radio und Fernsehen.

* Aus: Neues Deutschland, 27. September 2005


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