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Verspätetes Geburtstagsgeschenk für Lula

Dilma Rousseff gewinnt zur Freude des Amtsinhabers die Präsidentschaftswahlen in Brasilien

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre *

In Brasilien ist erstmals eine Frau an die Staatsspitze gewählt worden. Die Kandidatin der regierenden Arbeiterpartei, Dilma Rousseff, setzte sich nach Angaben der Wahlbehörden am Sonntag in der Stichwahl mit 56 Prozent gegen ihren rechtsliberaler Herausforderer José Serra durch.

Nun hat er es bekommen, sein »größtes Geschenk«: Vier Tage nach seinem 65. Geburtstag konnte Brasiliens scheidender Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sicher sein, dass sein langfristig angelegtes Projekt wenigstens bis 2014 fortgesetzt wird. In der Stichwahl am Sonntag (31. Okt.) triumphierte seine Wunschnachfolgerin Dilma Rousseff mit 56,05 Prozent der gültigen Stimmen. Der rechtsliberale Kandidat José Serra (68) von der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens erzielte 43,95 Prozent. Damit wird am 1. Januar 2011 erstmals eine Frau das Amt des brasilianischen Staatsoberhaupts antreten. In ihrer allerersten Reaktion dankte Dilma Rousseff allen Bürgern und versprach, deren Vertrauen nicht zu enttäuschen. Die Nachfolge Lulas anzutreten, sei eine »schwierige Aufgabe«, sagte die 62-jährige Exguerillera mit Tränen in den Augen: »Ich werde häufig an seiner Tür anklopfen.«

Daran, dass sie den sozialdemokratischen Kurs Lulas fortsetzen möchte, ließ die Tochter eines bulgarischen Einwanderers auch am Wahlabend keine Zweifel. In ihrer Siegesrede in Brasília sagte sie, wegen »Lulas Genialität, der Kraft des Volkes und der Unternehmer« sei in Brasilien eine »neue Ära des Wohlstands« angebrochen: Just zu einer Zeit, in der die Volkswirtschaften der Industrieländer erschüttert seien, könne Brasilien sein ganzes Potenzial entfalten.

»Bei Lula habe ich gelernt, dass eine enorme Kraft aus unserem Volk kommt, wenn man beim Regieren an das öffentliche Interesse und an die Armen denkt«, rief die siegreiche Kandidatin der regierenden Arbeiterpartei PT. Ihren Triumph hat sie vor allem jenen Millionen Menschen zu verdanken, die seit 2003 von Lulas Wirtschaftspolitik und seinen umfangreichen Sozialprogrammen profitiert haben – besonders im Nordosten des Riesenlandes, woher auch Lula stammt.

Der ehemalige Gewerkschafter, der laut Verfassung nicht zu einer dritten Amtszeit in Folge antreten durfte, ist Umfragen zufolge der mit Abstand populärste Präsident, an den sich das Wahlvolk erinnern kann. Während seiner achtjährigen Amtszeit stiegen über 20 Millionen Brasilianer aus der Armut in die untere Mittelschicht auf.

Der Mindestlohn legte seit 2003 um real 53 Prozent zu, die Arbeitslosigkeit ging deutlich zurück. Mit dem Sozialprogramm Bolsa-Família wurde das Los von 12 Millionen armen Familien erleichtert. Die Weltwirtschaftskrise hatte in Brasilien kaum negative Auswirkungen. Für 2010 wird ein Wachstum von sieben Prozent vorhergesagt.

Rousseff betonte erneut, in den kommenden Jahren könne das »absolute Elend« beseitigt werden. Hierzu müssten »für jeden Brasilianer« Lebenschancen geschaffen werden. »Wir rechnen kurzfristig nicht mit der Kraft der entwickelten Länder, um unser Wachstum anzustoßen«, sagte die künftige Präsidentin, »deshalb sind unsere eigene Politik, unser eigener Markt, unsere eigenen Ersparnisse und unsere eigenen wirtschaftlichen Entscheidungen umso wichtiger.«

Rousseff hob zudem die Bedeutung der Pressefreiheit hervor. »Ich bevorzuge den Lärm einer freien Presse gegenüber der Ruhe der Diktaturen«, sagte sie. Als 19-jährige Studentin hatte sie sich dem bewaffneten Widerstand gegen das Militärregine in Brasilien (1964-1985) angeschlossen. 1970 wurde sie verhaftet, wochenlang gefoltert und verbrachte fast drei Jahre im Gefängnis.

Staatsoberhäupter aus aller Welt begrüßten den Sieg Rousseffs. Die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner gratulierte Lula telefonisch zum guten Abschneiden der Arbeiterpartei und dankte ihm für die Rolle, die Brasilien in Lateinamerika spiele. Ihre künftige Kollegin Rousseff hieß Kirchner im »Klub der Präsidentinnen« willkommen.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez sagte in seiner Fernsehshow »Aló Presidente«, er begrüße die Wahlsiegerin im Kreis der linken Staatschefs Lateinamerikas. Rousseff sei eine »Patriotin mit Charakter, die harte Schlachten für ihr Land geschlagen hat«.

Insgesamt waren 136 Millionen Brasilianer zur Wahl aufgerufen. Die Wahlbeteiligung lag bei 79 Prozent. In neun der 27 Bundesstaaten fanden zudem Stichwahlen um das Gouverneursamt statt, bei denen die rechte Opposition Boden gutmachen konnte.

* Aus: Neues Deutschland, 2. November 2010


Linke Kontinuität

Präsidentschaftswahlen in Brasilien: Dilma Rousseff gewinnt klar gegen Oppositionskandidaten

Von Johannes Schulten **


Gewohnt nüchtern gab sich Dilma Rousseff, als sie kurz nach Bekanntwerden ihres Sieges bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen an die Öffentlichkeit trat. Sie werde die »Armut ausradieren und Arbeitsplätze für alle Brasilianerinnen und Brasilianer schaffen«, verkündete sie in der Nacht zum Montag in einem Hotel in der Hauptstadt Brasilia. Die Schlammschlacht, die Opposition, Presse und Kirche in den vergangenen Wochen gegen sie entfacht hatten, blieb unerwähnt. Statt dessen appellierte sie an die Einheit und forderte die gesamte Gesellschaft auf, an der Überwindung der Kluft mitzuarbeiten, »die uns davon trennt, ein entwickeltes Land zu sein«.

Einen Monat nach der ersten Wahlrunde hat die 62jährige Rousseff die Stichwahlen um das Amt des brasilianischen Staatspräsidenten klar gewonnen. Die Wunschkandidatin des scheidenden Präsidenten Luis Inácio »Lula« da Silva kam nach Auszählung fast aller Stimmen auf 56,05 Prozent. Ihr Herausforderer, José Serra von der Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB), erhielt mit 43,95 Prozent knapp elf Millionen Stimmen weniger. Ab Januar nächsten Jahres wird sie als erste Frau das Amt des brasilianischen Staatsoberhauptes antreten.

Ein kleiner Wermutstropfen dürfte die geringe Beteiligung gewesen sein. Trotz Wahlpflicht blieben rund 21,5 Prozent der Stimmberechtigten den Urnen fern.

International wurde Rousseffs Wahlsieg positiv aufgenommen. Vor allem von den lateinamerikanischen Linksregierungen erreichten sie noch in der Wahlnacht zahlreiche Glückwünsche. Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner hieß Rousseff in einem ersten Statement im »Club der weiblichen Präsidentinnen« willkommen, Venezuelas Staatschef Hugo Chávez lobte sie in seiner Fernsehsendung »Aló Presidente« als eine »patriotische Frau, die harte Kämpfe für ihr Land ausgefochten hat«. Und Boliviens Präsident Evo Morales wertete ihren Erfolg als »einen Triumph für die lateinamerikanische Demokratie«.

Mit Rousseff wird erstmals eine ehemalige Guerillakämpferin an der Spitze des größten Landes Südamerikas stehen. 1967, drei Jahre nach dem Putsch des brasilianischen Militärs, schloß sie sich der Stadtguerilla an und ging in den Untergrund. Sie plante mehrere Banküberfälle, betont jedoch, niemals an Anschlägen beteiligt gewesen zu sein. 1970 wurde sie verhaftet, gefoltert und für drei Jahre ins Gefängnis gesperrt. Trotz heftiger Anfeindungen wegen ihrer Vergangenheit hat sie ihre Herkunft und politischen Ziele niemals verleugnet.

Mit dem Sieg Rousseffs geht der am härtesten geführte Wahlkampf seit Brasiliens Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1985 zu Ende. Serra und die Medien des mächtigen Fernsehkonzerns TV Globo ließen keine Gelegenheit aus, die PT-Kandidatin auch persönlich anzugreifen. Noch in der vergangenen Woche hatte Serra sie als eine »lesbische Terroristin, die für Abtreibung ist«, beschimpft. Er appellierte damit an die im stark religiös geprägten Land vorherrschende Ablehnung einer Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.

Über den künftigen Kurs der Regierung Rousseff besteht wenig Zweifel. »Wir werden Lulas Weg weitergehen«, verkündete Rousseff beinahe mantraartig bei jedem ihrer Wahlkampfauftritte. Das heißt vor allem, Kombination von extensiver Wachstums- und Sozialpolitik sowie eine Stärkung der Rolle des Staates. In den vergangenen acht Jahren konnten so 24 Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit, zweieinhalb Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen und die Arbeitslosigkeit von etwa zwölf auf aktuell sieben Prozent reduziert werden.

Die Opposition wird es zukünftig schwerer haben. Zwar hat sie es nicht mehr mit dem Mythos Lula zu tun, der gegen Ende seiner Amtszeit auf historische Zustimmungswerte von 80 Prozent kommt. Dafür verfügt die Regierungskoalition seit den Kongreßwahlen von vor vier Wochen über eine solide Mehrheit in beiden Parlamentskammern.Theoretisch hätte sie nun freie Hand bei der Umsetzung ihrer Agenda. In der Praxis könnte es aber Rousseff schwer fallen, ausstehende Projekte wie etwa die Vertiefung der Agrarreform durchzusetzen. Denn sie stützt ihre Mehrheit auf ein zehn Parteien umfassendes Bündnis, in dem nicht etwa ihre Arbeiterpartei, sondern die liberale PMDB über die meisten Sitze im Parlament verfügt.

** Aus: junge Welt, 2. November 2010


Brasilien bleibt auf Kurs

Von Gerhard Dilger ***

In Brasilien ist gerade eine Richtungswahl klar zugunsten der Linken entschieden worden: Dilma Rousseff, die ehemalige Guerillera und seit 2005 Chefmanagerin der Regierung Lula, hat sich mit 56 Prozent gegen José Serra, den Vertreter des liberal-rechtskonservativen Lagers, durchgesetzt. Selbst die klare Parteinahme der großen brasilianischen Medien für die Rechte konnte dies nicht verhindern.

Auch westliche Leitmedien waren zuletzt auf Serra-Kurs umgeschwenkt. Das Londoner Wochenmagazin »Economist«, das Lula jahrelang als pragmatischen Garanten eines etwas sozialeren Kapitalismus umschwärmt hatte, sprach sich vor der Wahl ganz explizit für Serra und marktliberale Reformen aus.

Rousseff setzt dagegen auf die Fortsetzung von Lulas eigenständigem und selbstbewusstem Kurs. Auf die Weltwirtschaftskrise reagierten die Brasilianer mit neokeynesianischer Nachfragepolitik – und fuhren damit weitaus besser als die neoliberal ausgerichteten Europäer. Auch Lulas Süd-Süd-Politik, die sich wohltuend von der verzagten Außenpolitik seines Vorgängers Fernando Henrique Cardoso unterscheidet, will die neue Präsidentin fortsetzen, zum unverhohlenen Ärger der lateinamerikanischen Rechten und ihrer Claqueure.

Unter der Führung Brasiliens beginnt sich Südamerika aus der neokolonialen Abhängigkeit von den USA und Europa zu lösen. Eine Wahl Serras hätte einen schweren Rückschlag für dieses emanzipatorische Projekt bedeutet. Deshalb ist Dilma Rousseffs Erfolg auch ein Sieg für internationalistisch gesinnte Linke in aller Welt.

*** Aus: Neues Deutschland, 2. November 2010 (Kommentar)

Dokumentiert:

Kontinuität und Beschleunigung

Von Dilma Rousseff *

Brasilien hat bei den international vereinbarten Milleniumsentwicklungszielen die Vorgabe der Armutsverringerung bereits heute erreicht – und damit deutlich vor dem festgelegten Zeitpunkt. Das Millenniumsprogramm wurde in New York im September 2000 von 170 Staats- und Regierungschefs bei den Vereinten Nationen beschlossen. Die gesetzte Frist, um die Entwicklungsziele umzusetzen, reicht bis zum Jahr 2015. In den vergangenen acht Jahren stand die Befreiung des Landes von Armut im Mittelpunkt der brasilianischen Politik. Die Grundlage dazu war die Kombination von wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Integration. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten gingen Wachstum und Einkommensverteilung zusammen. Seit Antritt der Regierung Luis Inácio »Lula« da Silva haben 28 Millionen Personen die extreme Armut überwunden. Gleichzeitig konnten in einem Land mit 192 Millionen Einwohnern 29 Millionen Menschen den sozialen Anschluß an die Mittelschichten finden. Trotzdem bleibt noch viel zu tun. Wir sind der Überzeugung, daß der Weg zu einer entwickelten Nation nur über die Ausmerzung von Armut und Elend führen kann. Grundlage dafür ist, daß alle Brasilianerinnen und Brasilianer Zugang zu Ressourcen haben, die ihnen ein Leben in Würde sichern und sie zu vollwertigen Bürgerinnen und Bürgern des Landes machen. Die Überwindung der historischen Wurzeln der Armut und der Ungleichheit auf der Welt benötigt jedoch auch internationale Kräfteverhältnisse, die solche Veränderungen unterstützen. Deshalb sind wir davon überzeugt, daß die neue internationale Rolle Brasiliens das Spiegelbild der sozialen Veränderungen im Lande ist. Aus diesem Grund sind wir, als eine der zwanzig größeren Wirtschaftsnationen der Welt, Mitglied der 1999 geschaffenen G20 (Gruppe der 20) sowie der sogenannten BRIC-Staaten (Brasilien, Rußland, Indien und China) geworden. Kernpunkt der Arbeit der kommenden Jahre wird sein, unsere eingegangene Verpflichtung zur Ausmerzung des Elends zu erfüllen. Eine neue globale Geopolitik muß daher auf die anstehenden internationalen Herausforderungen reagieren können. Dazu gehören unter anderem der Sieg über Armut und Ungleichheiten und die Ausführung eines ökonomisch nachhaltigeren Entwicklungsmodells. Wir sind uns völlig bewußt, daß es keinen Frieden ohne wirtschaftliches und soziales Wachstum geben kann. Aufgrund der jüngsten Errungenschaften und der Position, die unser Land nun in der Welt einnimmt, wissen wir sehr genau, daß Brasilien einen enormen Beitrag für die Zukunft des Planeten zu leisten hat. * Neugewählte Präsidentin Brasiliens

Quelle: junge Welt, 3. November 2010




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