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"Ein Brasilien für alle"

Zu den Aussichten der Regierung Lula

Der "Sozialistischen Zeitung" SoZ vom November 2002 haben wir nachfolgenden Beitrag über die Lage in Brasilien nach den Präsidentschaftswahlen entnommen.

Endlich hat die PT (Arbeiterpartei) es geschafft: Nach einem grandiosen Wahlsieg ist sie führende Partei in der brasilianischen Bundesregierung. Nach drei vergeblichen Anläufen - 1989 gegen de Melo, 1994 und 1998 gegen Cardoso - ist Luiz Inácio Lula da Silva der neue Präsident und Hoffnungsträger Brasiliens. Der frühere Gewerkschaftsführer wurde in der Stichwahl am 27.10. von über 52 Millionen Brasilianer (über 61%) gewählt. Noch nie hat eine linke Partei so viele Stimmen erzielt und dies in einem Land, wo die Kluft zwischen Arm und Reich die größte der Welt ist. Es handelt sich um einen historischen Einschnitt mit internationalen Auswirkungen.

Die Freude über den Sieg Lulas und die enorme Stärkung der PT-Fraktion wird allerdings deutlich getrübt durch den Verlust der Landesregierungen in Rio Grande do Sul, aber auch in Amapa. Bereits in der ersten Runde konnte Piauí gewonnen werden. Nur knapp verlor die PT in Ceari und im Bundesdistrikt Brasília. Dennoch: Die Mehrheit will eine einschneidende politische und gesellschaftliche Wende. Sie glaubt nicht mehr an die Versprechen der Rechten, die enormen Ressourcen und das wirtschaftlich Potenzial zum Wohl aller anstatt nur zum Vorteil weniger Privilegierter einzusetzen.

Der Politisierungsgrad in Brasilien ist hoch. Zahlreiche soziale Bewegungen gibt es im ganzen Land. Sie reichen von Gewerkschaften wie der CUT, die gegen Überausbeutung, mangelhafte soziale Sicherungen und nur geringe Rechte kämpfen; über die Bewegung der Landlosen (MST), die mit Besetzungsaktionen und Ansiedlungsprojekten große Sympathien in der Bevölkerung, aber den Hass der Großgrundbesitzer auf sich gezogen hat; die Bewegungen der Kleinbauern, der Obdachlosen, der Arbeitslosen, der Schwarzen und Frauen gegen Diskriminierung bis hin zur Bewegung gegen die amerikanische Freihandelszone. Diese führte unlängst noch ein Referendum durch, in dem sich 10 Millionen Brasilianer gegen diese Form des neoliberalen Kolonialismus ausgesprochen hatten.

Zwischen Staat und Bewegung

Die PT entstand am Ende der 70er Jahre - die Militärdiktatur befand sich schon im Niedergang - und wurde in dem obigen Kontext allmählich immer stärker. Es war ein harter und steiniger Weg, sich als linke Partei zu entwickeln in einer Zeit, in der der Sozialismus weltweit diskreditiert wurde und neoliberale Regierungen sich als einzige politische Alternative darstellten. Mächtige Gruppen, welche die Wirtschaft, die Medien und den gesamten Staatsapparat kontrollierten, versuchten mit allen Mitteln, die PT in Misskredit zu bringen.

Trotzdem erzielte die PT Erfolg über Erfolg. Sie gilt als einzige Programmpartei Brasiliens und stammt aus der Selbstorganisation der Arbeiterinnen und Arbeiter. Deshalb hat die Partei auch stets dafür gesorgt, ein Gleichgewicht zwischen der Teilnahme an Regierungen und den sozialen Bewegungen zu schaffen.

Man glaubte daran, dass eine sozialistische Partei gleichzeitig den Staat als Unterdrückungsapparat abschaffen und die Organisation der Zivilgesellschaft fördern müsse. Seit die PT zunächst auf kommunaler und schließlich auf der Ebene der Bundesländer die ersten Wahlen gewann und mit der Umsetzung ihres Programms begann, wurde sie in den letzten 20 Jahren weltweit als linke Kraft bekannt, die konkrete Alternativen entwickelte. Andererseits musste sie zwischenzeitlich auch Rückschläge hinnehmen wie den Verlust der Präfektur in der Megastadt Săo Paulo oder der Landesregierungen von Espírito Santo und dem Bundesdistrikt Brasília, weil sie den immensen Herausforderungen nicht gewachsen war oder schwere politische Fehler begangen wurden.

Hinter dem Sieg der PT und der brasilianischen Linken insgesamt liegt ein sehr schwieriger Wahlkampf. Die Gegner des bürgerlichen Lagers schickten zunächst verschiedene Kandidaten ins Rennen. Es gelang ihnen diesmal nicht, sich bereits im ersten Wahlgang auf eine Einheitskandidatur zu verständigen. Die altbekannten Kritikpunkte an Lula, "fehlende Verwaltungserfahrung", "keine Hochschulausbildung", seine Identifizierung als Führer einer Radikalisierung in Brasilien, verfehlten diesmal ihre Wirkung.

Rechte Manöver

Im aktuellen Kontext Brasiliens, wo die Unzufriedenheit gleichzeitig mit Verarmung und Verschuldung zunahm, und dies unter einem Intellektuellen und Akademiker wie dem Präsidenten Cardoso, fanden die Eliten keine "Wunderalternative" mehr, um einem ihrer Kandidaten Glaubwürdigkeit und Attraktivität zu verleihen. Es wurde versucht, eine Regierung Lula als Abstieg in wirtschaftliches und gesellschaftliches Chaos an die Wand zu malen.

Vertreter des IWF und mächtige Geldanleger wie George Soros stießen Drohungen aus und machten Lula für die anhaltende Entwertung der Landeswährung Real verantwortlich. Brasilien unter Lula werde in eine noch schlimmere Krise als das Nachbarland Argentinien abrutschen. Andererseits kamen auch die Gegenkandidaten nicht umhin, die desaströsen Folgen des neoliberalen Kurses unter Cardoso zu kritisieren.

Doch die Manöver der Rechten und der internationalen Finanzwelt waren diesmal vergeblich. Lula wäre fast schon im ersten Wahlgang am 6.10. gewählt worden. In der Stichwahl trat der Gesundheitsminister José Serra als Vertreter der Regierung Cardoso und letzte - und vergebliche - Hoffnung der Eliten gegen Lula an. Doch in dem Maße, wie Lulas Sieg nicht mehr aufzuhalten war, verstärkte sich eine bereits vor den Wahlen zu beobachtende Tendenz: Teile der Eliten versuchten eine Annäherung. Lula habe sich geändert und die PT werde überhaupt nichts ändern. Nicht nur, weil die Marktmechanismen es nicht erlaubten, sondern auch, weil er und die PT sich inzwischen angepasst hätten. Eigene Äußerungen Lulas, die weltweite Beachtung fanden, scheinen ihre Ansicht zu bestätigen.

In der Tat hat sich in der PT vieles verändert. Verschiedene innerparteiliche Strömungen, sind so verschieden geworden, dass es den Anschein hat, als gäbe es keine gemeinsame PT mehr. Strömungen, die auf den Führungsebenen die stärkste Position innehaben, treten strategisch für ein "nationales" Projekt für die "gesamte" Bevölkerung ein. Deshalb ist die PT nicht mehr so einfach Vertreterin der Arbeitenden und der unteren Volksklassen, sondern sie sucht Alternativen, um "ein Brasilien für alle" zu schaffen.

Nach diesem Projekt scheint es so, als würde alles unter einen Hut passen, auch wenn die Interessen sehr widersprüchlich sind. Auf der einen Seite soll z.B. das Land weiter die Auslandschulden bezahlen und den Spekulanten die Angst nehmen, auf der anderen Seite soll mehr in Sozialprogramme investiert und mehr soziale Gerechtigkeit erreicht werden.

Mit den Zielen der PT in den 80er Jahren hat das nur noch wenig zu tun. Der PT-Mehrheit ging es darum, um jeden Preis an die Macht zu kommen und von da aus die politische Hegemonie zu sichern. Dafür ging man sogar Bündnisse mit rechten Parteien ein, wie der Liberalen Partei (PL), führte einen angepassten Diskurs und verzichtete auf traditionelle Programmbestandteile.

Mit dieser Konzeption wurde die PT sogar von großen Unternehmern unterstützt, und einer von ihnen ist der Chef eines Textilkonzerns und neue Vizepräsident José Alencar. Bedeutende Kreise haben auch verstanden, dass die neoliberale Politik ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen schwer getroffen hat. Das Problem ist nun, dass zentrale Positionen, die Lula und bedeutende Teile der PT heutzutage vertreten, den Eliten keinen Schrecken mehr einjagen. Ihre Unsicherheit besteht allerdings darin, ob diese Kräfte in der PT dem Erwartungsdruck aus Bevölkerung und einer weiteren Politisierung nach links werden standhalten können.

Anpassung

Ein anderer Teil der PT übt Widerstand gegenüber diese "sozialdemokratische" Richtung, die sich in der PT seit der Niederlage von 1989 allmählich durchsetzte. Sozialistische Strömungen, die besonders im Süden Brasiliens, in Rio Grande do Sul, stark sind, kritisieren sowohl die Bündnisse mit Liberalen, als auch das Abrücken der PT von der Revolutionsperspektive.

Obwohl diese linken Strömungen nicht die Mehrheit in der PT haben, sind sie kohärent mit der Geschichte der Partei, den Kongressentschließungen und haben starken Einfluss auf das Programm der PT. Für sie sind die Wahlen nur ein Mittel des Machtkampfs und sie treten dafür ein, die politische Hegemonie durch Klassenkampf innerhalb der Gesellschaft aufzubauen.

Mit Rücksicht auf die eigenen Erfahrungen der PT beweisen sie, dass eine linke Regierung überhaupt kein Machtinstrument ist, wenn sie nicht die Bevölkerung mobilisiert und dadurch legitimiert ist, Veränderungen zum Vorteil der Mehrheit durchzusetzen. Wahlerfolge der PT, die nicht als Folge einer soziale Bewegung erreicht wurden, blieben isoliert und sie übernahmen nichts anderes als die Rolle von Verwaltern eines krisenhaften Kapitalismus.

Es wird mit Sicherheit zu schweren Konflikten innerhalb der PT führen, wenn die "Anpassungspositionen", die Lula während des Wahlkampfs vertreten hat, tatsächlich umgesetzt werden. Andererseits ist auch zu beachten, dass die PT eigentlich mit dem Wahlerfolg nicht an die "Macht" gekommen ist, sondern zunächst nur an die Regierung, die sehr komplex ist und nur einen Teil der Macht bedeutet. Gegen diese Regierung werden sich die bürgerliche Parlamentsmehrheit, große Teile der Rechtsprechung, die "wirtschaftliche Macht", die mächtigen Medienkonzerne und im Zweifel das Militär einsetzen.

Auch im Volk hat die PT noch nicht die Mehrheit und die politische Hegemonie. Es waren durchschnittlich immer "nur" 30%, die PT wählten und bereit waren, das Originalprogramm der PT zu unterstützen. Zu kurzfristigen revolutionären Veränderungen kann es unter diesen Bedingungen kaum kommen, selbst wenn die PT es wollte.

Die neoliberalen Regierungen haben die Interventionsfähigkeit des Staates enorm reduziert und die Mobilisierungskraft der Volksorganisationen hat in den 90er Jahren abgenommen. Bedeutende Fortschritte wie die Landreform, die Umkehrung der Prioritäten, die Wiederverstaatlichung wichtiger Unternehmen und ein Zahlungsstopp bei den längst mehrfach zurückgezahlten Auslandschulden können nur durch eine Mobilisierung des Volkes durchgesetzt werden.

Selbstverständlich werden soziale Bewegungen es bald besser haben mit einer Regierung der PT. Aber ein Problem, das sich bereits aus den Erfahrungen der Partei in Landesregierungen ergab, ist das Aufsaugen von Führungskräften aus den sozialen Bewegungen, die nicht mehr an der Mobilisierung teilnehmen, sondern sich um Stellen im Staatsapparat kümmern. Das hat auch zur Demobilisierung innerhalb der Gesellschaft beigetragen.

Auf der anderen Seite hat das Auswirkungen auf eine neue Art von Opposition gegenüber der Regierung. Durch die Unzufriedenheit mit der Regierungsbürokratie haben Teile der PT die Bevölkerung gegen die PT- Regierungen mobilisiert. Auch die rechten Parteien haben Einfluss auf die Basis der Bewegungen gewonnen. Darin zeigt sich die Widersprüchlichkeit, gleichzeitig Bewegung und Regierung zu sein.

Der Erfolg einer Regierung Lula hängt letztlich davon ab, ob sich unter ihr die Volksmacht entwickeln kann, ob sie die Impulse der gesellschaftlichen Bewegungen aufgreift, damit die Kräfteverhältnisse weiter nach links verschieben kann, um ein "Brasilien für alle" durchzusetzen, oder ob sie enttäuscht, gegensteuert, demoralisiert und damit ihre eigene Niederlage vorbereitet.

Niederlage in Rio Grande do Sul

In der Hochburg der Parteilinken, Rio Grande do Sul (mit weltweit beispielhaften Formen erweiterter Demokratie, v.a. dem Beteiligungshaushalt), hat die PT die Gouverneurswahlen verloren. Der Kandidat der bürgerlichen PMDB, Germano Rigotto, konnte sich in der Stichwahl gegen Tarso Genro von der PT in einem schwierigen Lagerwahlkampf mit 300000 Stimmen Vorsprung (etwa 52% gegen 47%) durchsetzen.

1998 hatte die PT mit Olívio Dutra nach einem harten Wahlkampf sehr knapp gewonnen. Gestützt auf eine nur brüchige Linkskoalition im Landesparlament gelang es ihr dennoch, die beste Regierung in der Geschichte des Landes aufzustellen. Bei der Kandidatenaufstellung durch ein Mitgliederreferendum im März dieses Jahres konnte sich Tarso Genro, der dem gemäßigten Parteiflügel zugerechnet wird, überraschend und knapp gegen Olívio Dutra durchsetzen. Alarmierend: Selbst in der PT-Hochburg, der Landeshauptstadt Porto Alegre, erzielte Tarso Genro nur einen Vorsprung von 0,4% vor Rigotto.

Bei aller Freude über den Wahlsieg Lulas ist der Verlust der PT-Landesregierung im brasilianischen Süden bitter. Es gibt eine Hoffnung weniger, auch im Brasilien Lulas ein linkes Gegengewicht zu erhalten, obwohl die Landtagsfraktion der PT deutlich gestärkt und "nach links" ausgebaut werden konnte.

Das jetzige Ergebnis in Rio Grande do Sul zeigt, dass es nicht genügt, gut zu regieren. Höheres und dauerhaftes politisches Bewusstsein hängt auch von anderen Faktoren ab. Wahlergebnisse sind offenbar auch nicht die besten Parameter zur Bewertung der politischen Leistung einer Partei. Der Stellenwert von Regierungserfahrungen und Wahlkämpfen als Mittel des Aufbaus politischer Hegemonie muss auch in der PT erneut überprüft werden, gerade jetzt, wo sie ihre nominell größten Erfolge in Brasilien erzielte.

Antonio Inácio Andrioli* / Hermann Dierkes

* Antonio Inácio Andrioli ist Mitglied der PT in Rio Grande do Sul und studiert zur Zeit Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück.

Aus: SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 16



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