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Agrarreform beschleunigen

Brasilien hat einen neuen Minister für Landwirtschaftliche Entwicklung

Von Andreas Knobloch *

In einem angespannten Klima hat Brasiliens neuer Minister für Landwirtschaftliche Entwicklung, Gilberto José Spier Vargas, am Mittwoch sein Amt angetreten. Soziale Bewegungen, allen voran die Landlosenorganisation MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra), kritisierten die zögerliche Amtsführung seines Vorgängers Afonso Florence, der Ende vergangener Woche von Präsidentin Dilma Rousseff entlassen worden war. Die MST zeigte sich irritiert von der »Langsamkeit« und dem »Fehlen von Verbindlichkeit« bei der Umsetzung der Agrarreform und kündigte einen kämpferischen »Roten April« an. Im ersten Amtsjahr von Rousseff wurde gerade einmal an 22000 Familien Land verteilt. Dies sei die schlechteste Quote seit sechzehn Jahren.

Vargas teilte mit, die Präsidentin habe ihm zwei Aufgaben mit auf den Weg gegeben: die Agrarreform zu beschleunigen und die Armut auf dem Land zu bekämpfen. »Sie möchte durch eine Ausweitung der familiären Landwirtschaft eine breitere Einkommensverteilung auf dem Land«, so der neue Minister. Die Agrarreform sei eine der Sorgen der Regierung. Es reiche aber nicht aus, Land zu verteilen, sondern die Qualität der Niederlassungen müsse verbessert werden, so Vargas, beispielweise durch Bildungsprogramme, um die Produktivität zu erhöhen, sowie den Ausbau der Infrastruktur.

Sowohl Vargas als auch Florence gehören der regierenden Arbeiterpartei PT an; Vargas gilt jedoch im Gegensatz zu seinem Vorgänger als einflußreicher und zudem als Vertrauter der Präsidentin. Eigentlich hatte er für den Bürgermeisterposten in Caxias do Sul kandidieren wollen, bevor die Präsidentin ihn berief. Die Ablösung Florences kam angesichts der drastischen Reduzierung des verteilten Landes und der Tatsache, daß das erste Dekret zur Enteignung zu verteilenden Landes erst Ende Dezember unterzeichnet wurde, wenig überraschend. Florence ist bereits der elfte Minister, der in den ersten vierzehn Monaten von Rousseffs Regierungszeit aus dem Amt scheidet; acht davon wegen Korruption.

Die MST hofft nun auf Fortschritte im Ministerium für Landwirtschaftliche Entwicklung, das für die Agrarreform zuständig ist. Der Export von Agrargütern dagegen wird vom Landwirtschaftsministerium verwaltet. »Die Präsidentin erkennt an, daß 2011 nichts für die Agrarreform getan wurde. Wir hoffen, daß der neue Minister dies ändern wird«, sagte Alexandre Conceição von der MST-Führung. Nach seinen Angaben warten allein im nordbrasilianischen Bundesstaat Pernambuco 15000 Familien auf Land, aber an gerade einmal 102 sei Grund und Boden verteilt worden.

Schon seit längerem fordert die MST eine Umstrukturierung der brasilianischen Landwirtschaft; weg vom ex-portorientierten Agrarbusiness hin zu einer auf den Binnenmarkt ausgerichteten Produktion auf kleinerer Skala und einer Dekonzentration des Grund und Bodens. Brasilien ist eines der Länder mit der ungerechtesten Landverteilung weltweit.

Trotz des Wechsels an der Spitze des Ministeriums hat die MST einen kämpferischen »Roten April« angekündigt, in dem traditionell viele Landbesetzungen stattfinden. Sie erinnert damit an das Massaker von Eldorado dos Carajás vom 17. April 1996, bei dem neunzehn Landarbeiter von der Militärpolizei ermordet wurden. Im Jahr 2002 hatte der damalige Präsident Brasiliens, Fernando Henrique Cardoso, dieses Datum zum Jahrestag des Kampfes für die Agrarreform erklärt. Zudem soll mit den Besetzungen der Druck auf die staatlichen Behörden erhöht werden, Landgüter zu enteignen und für die Landreform zur Verfügung zu stellen. In den vergangenen Jahren, während der Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva, ist in Sachen Agrarreform wenig geschehen. Die Aktionen der Regierung hatten vor allem kompensatorischen Charakter, griffen aber weder die Besitzstrukturen im Land an noch bewirkten sie eine Dezentralisierung von Grund und Boden.

* Aus: junge Welt, 16. März 2012


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