Gleichberechtigt in der Kalahari
Wie Botswana die jahrhundertealte Diskriminierung der San-Urbevölkerung zu überwinden versucht
Von Roswitha Reich
Die ersten holländischen Siedler am Kap nannten sie Bosjesman (Leute, die hinter den zusammengeflochtenen Zweigen
wohnen), jagten sie wie Tiere und versklavten ihre Kinder. Die Engländer führten sie 1847 auf einer Londoner
Ausstellung als das entwicklungsgeschichtlich noch »vermißte Glied« zwischen Tier und Mensch vor. Erst vor einigen
Monaten wurde der letzte in einem europäischen Museum ausgestopft vorgezeigte Buschmann nach Botswana überführt
und dort beerdigt. Um das zu bewerkstelligen, mußte sogar die UNO bei der spanischen Regierung vorstellig werden.
Das Museum der Stadt Banyoles in Katalonien wollte »seinen Krieger«, die touristische Attraktion, nicht herausgeben.
Die südafrikanische Urbevölkerung Khoisan, die in der Wüste Kalahari San und an den Ozeanküsten Südafrikas Khoi
genannt wird, ist seit über 30000 Jahren nachweisbar. Sie war leichte Beute für Sklavenhändler, und ab 1652, als der
Holländer Jan van Riebeeck am Kap landete, wurde sie fast ausgerottet. Die Zahlen schwanken, aber heute leben im
gesamten südafrikanischen Raum - in Botswana, Angola, Namibia, Simbabwe und Südafrika - nur noch ungefähr
100000 dieser Menschen, vornehmlich San. Die Wüste Kalahari, die zwei Drittel des Territoriums von Botswana
bedeckt und bis in den Norden Südafrikas hineinreicht, ist ihr hauptsächliches Lebensgebiet. Als nomadisierende Jäger
und Sammler brauchen sie die unbewohnte Weite, die heute immer kleiner wird. Südafrika hat die Wüste zum
Gemsbock- Nationalpark erklärt, Botswana hat in der Wüste Diamanten und andere Bodenschätze gefunden, und im
schmalen Caprivi- Streifen zwischen Botswana, Namibia und Simbabwe, einem weiteren Rückzugsgebiet der San,
fanden sie angesichts der Vorliebe der Apartheidmilitärs und afrikanischen Kämpfer für diese strategische Landzunge
schon gar keinen Frieden.
Mißbraucht als Fährtenleser
Im Kampf gegen die SWAPO-Befreiungsorganisation und die Guerillas des ANC nutzten die südafrikanischen Militärs
die Fähigkeiten der San als Spurensucher und Fährtenleser. Im damaligen Camp Omega, nicht weit von der
botswanischen Stadt Ghanzi, im namibischen Caprivi-Streifen, bildeten sie etwa 700 von ihnen für den Einsatz gegen die
Freiheitskämpfer aus. Schon in Angola mußten San ob ihrer Kenntnisse der Natur als Söldner der Portugiesen gegen die
Befreiungsbewegung dienen. Derzeit versucht die UNITA von Jonas Savimbi, sie gegen die angolanische Armee zu
gewinnen. Namibia, das die Regierung in Luanda unterstützt, versucht sie deshalb aus dem Caprivi-Streifen umzusiedeln.
Die neue südafrikanische Regierung hat den San in ihrem Teil der Wüste Kalahari das unter der Apartheid geraubte
Land, insgesamt 50000 Hektar, meist im Gemsbock- Nationalpark an der Grenze zu Botswana gelegen, im vergangenen
Jahr zurückgegeben. Die San können sich dort wieder ansiedeln. Um einen Anteil an den Einnahmen aus dem
Touristengeschäft im Park zu bekommen, wollen sie eigene Gästezimmer betreiben, Kunsthandwerk und traditionelle
Heilpflanzen feilbieten. Für die San, die in der Apartheidarmee gedient hatten, meint die südafrikanische Regierung keine
Verantwortung übernehmen zu müssen.
Schulpflicht auch für San
Botswana ist das einzige afrikanische Land, das die San den anderen Volksgruppen im Lande, den Tswanas, Hereros
und Kalangas, juristisch vollkommen gleichgestellt hat. Die Regierung findet es an der Zeit, die Diskriminierung der
afrikanischen Urbevölkerung durch die später im südlichen Afrika seßhaft gewordenen Bantuvölker zu beenden. Sie
unterschätzt keinesfalls die Größe der Aufgabe, sondern weiß: Es wird Generationen dauern, um die San aus ihren
urgemeinschaftlichen Lebensformen und der oft völligen Verelendung, in der sie »nach Gebrauch« durch die
südafrikanische Apartheid in den Busch zurückgestoßen worden sind, in heutige Produktions- und Lebensweisen Afrikas
zu bringen. Aber Botswana geht die Aufgabe vehement an. Das reiche Botswana mit seinen auf Diamantenminen
beruhenden jährlichen Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts von nahezu zehn Prozent könne sich das auch leisten,
halten die Nachbarländer entgegen. Die Regierung Botswanas sieht diesen Kampf jedoch eher als einen Kampf um die
Würde Afrikas und seiner Bewohner an. Sie steht dazu auch in Vorbereitung der Antirassismuskonferenz im
südafrikanischen Durban. Das Förderprogramm für die San in Botswana ist vorbildlich. Die Regierung baut ihnen
Siedlungen in der Zentralkalahari, an der Grenze zu Namibia, da, wo die meisten von ihnen leben. Derzeit bewohnen
etwa 4000 San 20 solche kleinen Siedlungen mit festen Steinhäusern und Tiefbrunnen. Wer freiwillig kommt, erhält
kostenlos Grundnahrungsmittel und eine Art Sozialhilfe von 110 Pula (rund 36 DM). Um diese Siedlungen herum greifen
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Während das Seßhaftwerden der Erwachsenen noch mehr oder minder freiwillig
verläuft, gilt für die Kinder der San schon die gleiche Schulpflicht wie für alle anderen Kinder Botswanas. Die Regierung
läßt sie zu Schulbeginn zum Teil sogar mit Flugzeugen bei den Eltern abholen und in Internatsschulen bringen. Nur in den
Ferien leben sie bei ihren nomadisierenden Familien. So soll nach und nach eine neue San-Generation herangebildet
werden, die einerseits ihre Kultur nicht vergißt und nicht verleumdet, und andererseits ihr Leben den Tswana, Kalanga
und Herero angleicht. Die Regierung weiß, daß manche Familien den Schulbesuch der Kinder als Zwangsmaßnahme
empfinden, ist aber entschlossen, die gesetzliche Schulpflicht mit kostenlosem Grundschulunterricht für alle Kinder
gleicherweise durchzusetzen.
Auch die staatlichen Gesundheitsstationen und die kostenlose medizinische Versorgung der Bürger sind ein Segen für die
San. Wie kein anderes Volk im südlichen Afrika leiden San schon seit Generationen unter Syphilis, Tuberkulose, Typhus
und nunmehr auch noch unter AIDS. Im Winter sterben Kinder und ältere Menschen reihenweise an Grippe und
Lungenentzündung. Immer noch liegt die Kindersterblichkeit bei 50 Prozent. Kleinkinder haben entzündete Gesichter und
aufgeblähte Bäuche - Zeichen von Proteinmangel. Viele »Alte« sind blind, bedingt durch Augenkrankheiten, die der
Wüstensand hervorruft. Die Lebenserwartung liegt bei 45 Jahren.
Leben im Freilandzoo?
Steht es Weißen aus Namibia und Südafrika oder europäischen Anthropologen und Ethnologen zu, Botswana für das
San-Programm zu kritisieren? Ich meine, nein. Vielleicht nimmt man der Urbevölkerung dabei ihren Lebensstil, und viele
San vertrinken auch ihre Sozialhilfe. Der Spagat von der Urgemeinschaft in die Neuzeit ist eine schwierige Sache. Aber
das Leben als Jäger und Sammler ist auch im 21. Jahrhundert keine Idylle. Obwohl die Regierung Botswanas einen
großen Teil der Zentralkalahari, den Hauptlebensraum der San mit ihren heiligen Tsodilo-Bergen, zum Schutzgebiet
erklärt hat, leben dort nur wenige Buschleute. Die meisten San sind schon lange Landarbeiter oder in die Slums am
Rande der Städte gezogen, wo sie sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Natürlich haben auch in Botswana
Tourismus, Bergbau und Rinderzucht den Lebensraum der San eingeengt. Es ist aber eine Illusion zu glauben, daß sich
die moderne Entwicklung ausgerechnet in Botswana stoppen ließe. Ich finde es schon sehr bizarr, wenn weiße liberale
Südafrikaner plötzlich die Menschenrechte der San entdecken und, wie jüngst in Johannesburg, eine internationale
Konferenz für das Recht der San auf Bewahrung ihrer »ursprünglichen« Lebensweise veranstalten.
Burische Arbeitgeber
In Ghanzi, einem Distrikt von über 100000 Quadratkilometern im Westen Botswanas, wo es ausreichend Grundwasser
gibt, sind weiße wohlhabende Farmer immer noch die wichtigsten Arbeitgeber für die San. Sie sind Nachkommen
burischer Siedler, die sich hier ab 1868 niederließen, die größte Gruppe weißer Siedler überhaupt, die je nach Botswana
kam. Als ab 1960 eine Straße nach Ghanzi gebaut wurde, kam der Wohlstand zu den etwa 150 Rinderzüchtern. Nun
mußten sie ihre Tiere nicht mehr tagelang durch die Wüste bis zum Schlachthof Lobatse an die südafrikanische Grenze
treiben. Per Lastwagen dauern die Viehtransporte nur noch Stunden. Die Herden wuchsen und brachten ihren Besitzern
Profit. Heute ist Ghanzi ein attraktives Rinderzuchtgebiet. Sechs Prozent der Herden Botswanas stehen hier. Die Wüste
Kalahari ist für europäische Ansiedlung nie einladend gewesen. Die britischen Kolonialbeamten kamen in der Regel aus
Südafrika und wurden vertragsmäßig ausgetauscht. Bis heute leben die meisten Weißen in der Hauptstadt Gabarone. Sie
haben Regierungsverträge, die vier Jahre gelten und sind sogenannte Expatriats, die dann nach Hause gehen, wenn
Bürger Botswanas ihre Jobs übernehmen können.
Erneuerbare Energie
Ich sah mir das San-Entwicklungsprogramm in der Zentralkalahari an. In der Nähe von Ghanzi, das nur 70 Kilometer
von der namibischen Grenze entfernt liegt, traf ich auf einen Architekten, der am Bau einer Gästefarm beteiligt ist, die
vorrangig den San Arbeit geben soll. Er hatte das alte Farmhaus, das weißen Farmern abgekauft worden war,
entsprechend umgebaut, modernisiert und auch die Räume eingerichtet. Strom und Warmwasser liefert eine Solaranlage
auf dem Hausdach, und zum Heraufpumpen des Grundwassers wird das Windrad eingesetzt. Botswana ist vorbildlich in
der Anwendung umweltfreundlicher Technologien.
In D'Kar, etwa 35 Kilometer nordöstlich von Ghanzi, hat die Nichtregierungsorganisation Kuru Development Trust ihr
Hauptquartier. Es liegt auf dem Gelände einer Missionsstation der holländisch-reformierten Kirche. Kuru hat eine ganze
Reihe verschiedener Projekte initiiert, die die San fördern und das Zusammenleben der Urbevölkerung mit den anderen
Ethnien Botswanas üben. Auf dem Missionsgelände gibt es einen Kindergarten und künstlerische Werkstätten. Es gibt
Klassen, in denen San Lesen und Schreiben lernen können, und landwirtschaftliche Ausbildungszentren. Der Trust hatte
einen Vorläufer im Ghanzi Craft Centre, das schon 1983 gegründet wurde. Damals kamen Entwicklungshelfer aus
Holland, und einige sind immer noch da, um die traditionellen Talente der San als Handwerker, Maler und Zeichner zu
fördern und ihnen zu helfen, die seit Jahrtausenden durch ihre Felszeichnungen bekannten Motive und Techniken zu
bewahren. Das Zentrum betreut etwa 700 Handwerkskünstler im ganzen Lande. Es kauft ihre Arbeiten auf und
vermarktet sie an Touristen und ins Ausland, wobei der Profit fast vollständig zurück in die Entwicklungsarbeit fließt.
Man sieht wunderschöne Arbeiten aus Straußeneierschalen: Ketten, Armbänder, Ohrringe, Stirnbänder und Gürtel sowie
ganze bemalte Eier. Anderer Schmuck ist aus Glasperlen und Samen. Auch geschnitzte Holzfiguren von Menschen und
Tieren sowie Sets traditioneller Jagdausrüstungen (Speere, Bogen, Tragetaschen) und Musikinstrumente werden
angeboten sowie moderne Lederarbeiten - bespannte Stühle, Pferdehalfter, Ledertaschen, Lederhüte. Mir haben es
San-Batiken auf Tüchern und T-Shirts mit Motiven von Felszeichnungen angetan. In dem Kuru-Zentrum wird auch die
traditionelle Musik und die Sprache der San erforscht und dokumentiert. Am Ende meines Aufenthalts in Ghanzi treffe
ich auf die Versammlung der Chiefs des Landes. Sie sind mit einer dickbäuchigen Militärmaschine gekommen, die etwas
abseits auf einer Flugpiste steht, von der auch Linienflüge in die Hauptstadt Gabarone verkehren. Die traditionellen
Würdenträger, die als Regierungsbeamte den kommunalen Frieden gewährleisten, informieren sich regelmäßig vor Ort
über bestimmte Schwerpunktprogramme. Diesmal werden die San besucht, wobei die San-Repräsentanten, die das
Treffen mit den Würdenträgern organisert haben, auch mir liebevolle Gastgeber sind. Diese regelmäßigen gemeinsamen
Ausflüge sollen das gegenseitige Vertrauen und Verstehen der verschiedenen Stämme und Völker fördern, und das tun
sie auch. Alle Stammeswürdenträger haben Sitz und Stimme im Parlament. Es gibt übrigens nicht nur männliche Chiefs.
Begutachtet wird auch der Stand der Arbeiten an der neuen Asphaltstraße Maun - Ghanzi - Gabarone. Straßenbau ist in
Botswana nicht nur wegen des sandigen Untergrundes eine technische Meisterleistung, sondern auch Schwerstarbeit und
ungewöhnlich teuer. Da es kein Wasser gibt, müssen entlang der Strecke Tiefbrunnen gebohrt werden. Alles
Baumaterial, sogar die Steine, müssen von weit hergeholt, oft über Hunderte Kilometer herantransportiert werden. Als es
1966 unabhängig wurde, hatte Bechuanaland, wie Botswana damals noch hieß, nur Sandwege. Heute gibt es 8029
Kilometer Asphaltstraßen, auch der gegenwärtige Fünfjahrplan sieht wieder fünf Milliarden Pula für Straßenbau vor.
Der Kalahari-Wüstenstaat Botswana war mit seinen nur 1,5 Millionen Einwohnern bei der Unabhängigkeitserklärung von
Großbritannien im Jahre 1966 eines der ärmsten Länder Afrikas. Erst als 1967 in Orapa und kurz darauf in Letlhakane
(nahe der Hauptstadt Gabarone) Diamanten gefunden wurden, begann die industrielle Entwicklung des Landes. Die
wertvollen Edelsteine garantierten seitdem ein jährliches Wirtschaftswachstum von sieben bis zehn Prozent. Die
Diamantenverkäufe machen heute 50 Prozent der Staatseinnahmen und 75 Prozent der Exporterlöse aus. In den mehr als
30 Jahren, die seit den ersten Diamantenfunden vergangen sind, stieg das jährliche Durchschnittseinkommen der
botswanischen Bürger von umgerechnet 80 auf 3600 US- Dollar. Dabei gibt es immer noch eine Arbeitslosigkeit von
etwa 20 Prozent.
Höchste HIV-Rate der Welt
Botswana kommt mit seinen attraktiven Gegenden, wie dem Okavango-Delta und den Makgadikgadi-Salzseen langsam
auch ins Tourismusgeschäft, vermochte aber bis heute kaum eine verarbeitende Industrie zu entwickeln. Gerade ist die
vor zwei Jahren erfolgversprechend begonnene Hyundai- Autoproduktion in Gabarone Pleite gegangen. Dabei verloren
nicht nur alle Beschäftigten ihren Job und alle kleinen lokalen Zulieferer ihre Existenz, auch den Staat trifft der Bankrott
der Südkoreaner, er verliert 254 Millionen Pula für Kreditbürgschaften (1 US$ = 5,5 Pula). Die Landwirtschaft hat sich
nach verheerenden Jahren mit Rinderpest (Contagious Bovine Pleuro-Pneumonia) zwar wieder erholt, kann aber noch
immer nicht so viel Rindfleisch exportieren, wie es die Botswana gewährten EU-Vorzugsquoten zulassen. Ackerbau ist
wegen des Wüstenbodens kaum möglich, was bedeutet, daß Botswana fast alle Nahrungsmittel aus dem Nachbarland
Südafrika einführen muß.
Ob sich die Armutsrate der zum großen Teil mangelernährten Bevölkerung verringert hat, erfahre ich nicht. Es gibt keine
neuen Zahlen. 1993 lebten 47 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Obwohl die Regierung heute jedem
Bürger kostenlose Grundschulausbildung und freie Gesundheitsfürsorge garantiert, weitreichende
Beschäftigungsprogramme entwickelt (über die vor allem die Infrastruktur des Landes kontinuierlich ausgebaut wird) und
die Armen mit Sozialhilfe versorgt, sind die meisten Männer noch immer als Wanderarbeiter in Südafrika beschäftigt, und
auch viele Frauen versuchen, dort als Dienstboten oder Prostituierte ein bißchen Geld zu verdienen. Das führte dazu, daß
Botswana heute die höchste HIV/AIDS-Rate in der Welt aufweist und jeder zweite Botswaner mit dem Virus infiziert ist.
Die Regierung hat in diesem Jahr den AIDS-Notstand ausgerufen und mehr Staatsgelder zur Bekämpfung der Seuche
und zur Behandlung der Kranken zur Verfügung gestellt.
Aus: junge welt, 15. Juni 2001
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