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Die Antithese zum Neoliberalismus

Boliviens Wirtschaftsminister Luis Alberto Arce Catacora über Wachstum, Rohstoffförderung und Souveränität *


Luis Alberto Arce Catacora ist Minister für Wirtschaft und Finanzen in Bolivien. Als Wissenschaftler hat der Sozialist mit anderen an der Universität San Marcos das ökonomische Modell Boliviens neu entwickelt und das Wirtschaftsmodell später auch in Harvard und an der Columbia University vorgestellt. Mit dem 51-Jährigen sprach Knut Henkel.


Herr Arce, Sie sind seit acht Jahren Wirtschaftsminister im Kabinett von Boliviens Staatspräsident Evo Morales. Wo sehen Sie die zentralen Erfolge der Regierungszeit?

Erstens denke ich, dass wir die ökonomische Souveränität zurückerlangt haben. Wir hängen von keiner internationalen Wirtschaftsorganisation, keiner externen Regierung ab, sondern definieren unsere Wirtschaftspolitik eigenständig. Zweitens haben wir eine soziale, produktive und kommunitäre Wirtschaftspolitik implementiert, die letztlich die Antithese zum alten neoliberalen Wirtschaftsmodell ist. Heute planen wir Interventionen des Staates, wo früher das freie Spiel der Kräfte des Marktes galt. Die Lokomotive der Entwicklung in Bolivien ist heute der Staat und nicht die Privatwirtschaft, die es aber sehr wohl gibt.

Was sind die Charakteristika des bolivianischen Modells?

Wir haben ein Modell implementiert, das darauf abzielt, Wachstum zu generieren. Die Basis dafür liefern die Rohstoffvorkommen, die wir erschließen. Dabei widerlegen wir aus meiner Perspektive auch die alte neoliberale These, dass rohstoffreiche Staaten diese nicht für die eigene Entwicklung einsetzen können. In Bolivien verteilt der Staat die Überschüsse, es ist ein Verteilungsmodell, das darauf abzielt, die Ungleichheiten abzubauen und die Armut zu eliminieren.

Sehen Sie hierbei Erfolge?

Wir haben gute Resultate vorzuweisen. So haben wir Wachstum, obwohl die Preise für Mineralien oder auch für Energieträger fielen. So zum Beispiel 2008, als die Preise für Erdöl und Erdgas nachgaben und Bolivien trotzdem erstmals stärker wuchs als alle Nachbarn in der Region. 2011, 2012 und 2013 waren schlechte Jahre für Bergbauprodukte und trotzdem wuchs unsere Wirtschaft. 2013 immerhin um 6,8 Prozent.

Unser Modell hängt also nicht allein von den Rohstoffpreisen ab, auch wenn uns die Neustrukturierung vieler Verträge Investitionskapital in die Hände gegeben hat, sondern auch von der Binnennachfrage. Das ist bemerkenswert, dass diese so viel Dynamik entfacht, dass eine Krise bei den Nachbarn, ob Kolumbien oder Brasilien, bei uns nicht mehr so stark ins Gewicht fällt. Es ist unser eigenes Entwicklungsmodell, das uns zuversichtlich in die Zukunft schauen lässt.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die nächsten fünf Jahre – man muss ja davon ausgehen, dass die Regierung bei den Wahlen am 12. Oktober im Amt bestätigt wird?

Ich denke, dass die Bevölkerung unsere Arbeit schätzt und wir sie fortsetzen werden. Dabei verfolgen wir ein einfaches Ziel: die Konsolidierung unseres Industrialisierungsmodells. Da haben wir viel Geld investiert. Im September 2015 wird unsere Harnstofffabrik eingeweiht werden, wir planen mittelfristig unsere eigenen Plastikprodukte auf Gasbasis zu produzieren und wollen auch unsere Bergbauprodukte im Land weiterverarbeiten, veredeln und nicht mehr als Rohstoff exportieren. Das wird uns größere Einnahmen bescheren.

Ihre Regierung will auch in den Ausbau der Stromproduktion investieren. Welche Rolle spielen dabei alternative Energien?

Bolivien hat eine Strategie angesichts der Energiekrise in der Welt – der Erdölausstoß wird ja sinken, und auch bei den Nahrungsmitteln nimmt die Zahl der Krisen zu. Bolivien bereitet sich darauf vor und will zu einem Energiezentrum für Lateinamerika werden. Wir haben Flüsse und Wasserfälle, wo weitere Wasserkraftwerke entstehen können, es gibt ein Windenergiepotenzial, wir haben geothermisch überaus attraktive Zonen und in vielen Landesteilen ist die Solarenergie eine vielversprechende Alternative. Und wir können mit den Lithiumbatterien, die wir entwickeln, auch Energie speichern.

Kurzum, wir können zu einem wichtigen Player werden, wir verkaufen bereits an Brasilien und Argentinien Gas, welches in die Stromproduktion fließt. Auch Chile ist auf der Suche nach Energiequellen und wir können liefern, denn schon heute produzieren wir mehr, als wir selbst verbrauchen. Wir haben derzeit eine Reserve von 39 Prozent der nationalen Produktion sowie gute Perspektiven, Leitungen zu installieren und Energie zu exportieren. Gerade Brasilien hat große Schwierigkeiten, den Bedarf zu decken – das ist eine große Chance für uns. Natürlich kostet der Ausbau Geld. Wir kalkulieren mit Kosten von rund 2,8 Milliarden US-Dollar und dafür brauchen wir einen strategischen Partner, aber die Ertragsperspektiven sind gut.

Es gibt aber auch Kritiker im Land, die befürchten, dass diese Projekte die Natur Boliviens aus dem Gleichgewicht bringen könnten?

Auch andere Länder haben es geschafft, ihre Investitionen zu kontrollieren. und wir sind nicht die einzigen, die vor einer solchen Herausforderung stehen. Wir müssen die Auswirkungen auf die Natur regulieren und reduzieren – das ist Konsens. Die »Verteidigung der Mutter Erde« ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Politik. Wir wissen, dass das nicht zu 100 Prozent umsetzbar ist, aber wir wissen auch, dass wir da Verpflichtungen haben und die Auswirkungen verringern müssen.

Gleichwohl bescheinigen Kritiker Ihnen, eine konventionelle Wachstumspolitik zu verantworten, die wenig mit dem von der Regierung ausgegebenen Ziel des »Vivir Bien« (die Indigenen in Bolivien sprechen von »gutem Leben« und nicht von »Entwicklung«, d.Red.) zu tun habe. Wie denken Sie darüber?

Wenn Sie mit den Leuten des Internationalen Währungsfonds (IWF) sprechen, attestieren die uns das Gegenteil. Wenn Sie mit den Kritikern wie Rafael Puente (ehemaliger Vize-Innenminister Boliviens, d.Red.) sprechen, haben die noch nie einen Alternativvorschlag unterbreitet. Es handelt sich um einen Diskurs der Abgrenzung von der Regierungspolitik und nicht mehr. Da haben die Leute vom IWF mehr zu bieten, denn sie fragen klar: Wie wollen sie den Zinssatz kontrollieren, wie die Armutsquote reduzieren? Sie sollte man fragen, ob das, was wir hier machen, eine orthodoxe Politik ist oder nicht? Sie kennen die Rahmendaten und können beurteilen, ob wir konventionell wirtschaften oder nicht. Sicher ist jedoch, dass wir Bolivianer unsere eigene Wirtschaftspolitik definieren – das hat es lange nicht gegeben.

* Aus: neues deutschland, Montag, 6. Oktober 2014


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