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Parlament in Bolivien arbeitet Privatisierungspolitik der Vergangenheit auf. Staatsanwaltschaft ermittelt gegen hochrangige Politiker

Von Benjamin Beutler, Santa Cruz de la Sierra *

Ein Untersuchungsausschuss im bolivianischen Parlament hat erstmals Ergebnisse vorgestellt über die verheerenden Privatisierungen von Staatseigentum während der neoliberalen Ära in den 1990er Jahren. »Es ist wichtig, dass die Bolivianer nicht vergessen, wer die Verantwortlichen für den entstandenen Schaden sind«, erklärte Boliviens Parlamentspräsident Álvaro García Linera am Dienstag abend während der letzten Sitzung der Legislaturperiode der Plurinationalen Versammlung in La Paz.

Die Opposition verweigerte angesichts der Zweidrittelmehrheit der Regierungspartei »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) bis zuletzt die Mitarbeit in der Kommission. Linera kündigte die Fortsetzung des 2013 eingesetzten Gremiums an. Allein der Verkauf des öffentlichen Eigentums habe den Fiskus fast eine halbe Milliarde US-Dollar gekostet, heißt es in dem Bericht des Untersuchungsausschusses.

Gegen ein Dutzend politische Verantwortliche soll in den nächsten Monaten strafrechtlich ermittelt werden. Ihnen wird das Verscherbeln von Staatsfirmen im Energiesektor, im Bergbau, in der Metallurgie, der Telekommunikation, im Verkehrswesen sowie von kleineren kommunalen Betrieben zwischen 1986 und 2002 vorgeworfen. Mittlerweile sind viele der Privatisierungen wieder rückgängig gemacht worden.

Die Ermittlungsbehörden konzentrieren sich auf einige ehemalige politische Schwergewichte wie z. B. den nach einem Aufstand 2005 in die USA geflohenen Expräsidenten Gonzalo »Goni« Sánchez de Lozada. Auch die Machenschaften des 2002 verstorbenen einstigen Militärdiktators Hugo Banzer Suárez und seines Nachfolgers Jorge »Tuto« Quiroga kommen unter die Lupe.

Unter der Ägide von Weltbank und Internationalem Währungsfonds galt Bolivien lange Zeit als neoliberaler »Musterschüler«. So viel Markt und Freihandel und so wenig Staat und Regulierung wie möglich war die Devise. Das Ergebnis: mehr Armut, eine sich unverschämt bereichernde Oberschicht und ein handlungsunfähiger Staat.

Doch seit dem Wahlsieg der MAS Ende 2005 wurde eine andere Politik begonnen. Darin bestätigt wurde die »Regierung der sozialen Bewegungen« mit Präsident Evo Morales an der Spitze mit 61,4 Prozent im vergangenen Oktober. Sie schickt sich an, die noch bestehenden Hinterlassenschaften der neoliberalen Vergangenheit zu beseitigen und die dafür Verantwortlichen zu entmachten.

In zwei Fällen wird das Parlament Anklage bei der Generalstaatsanwaltschaft wegen »unwirtschaftlichem Verhalten«, »Abschluss schädlicher Verträge« sowie »Verletzung von Amtspflichten« einreichen. Weitere Prozesse sollen folgen. Im ersten Fall sollen die Umstände des Verkaufs der staatlichen Eisenbahnfirma ENFE 1995 geklärt werden. Damals wurde die ENFE in Red Andina (Hochland) und Red Oriental (Tiefland) aufgespalten. Anschließend war letztere weit unter dem Schätzwert von 137 Millionen US-Dollar für lediglich 66 Millionen US-Dollar an die chilenische Firma Cruz Blanca verkauft worden. »Ein Geschenk für die Chilenen«, urteilt Kommissionspräsident Marcelo Elío.

Im zweiten Fall soll aufgedeckt werden, auf welche Weise 1992 ein öffentlicher, 21 Millionen US-Dollar umfassender Kredit aus den USA an eine Privatstiftung weitergeleitet wurde. Ohne gesetzliche Grundlage habe der damalige Planungsminister Samuel Doria Medina gehandelt und die Gelder an politische Weggefährten verteilt, lautet der Vorwurf.

Multimillionär Medina, der bei der Wahl im Oktober zweiter wurde, muss sich demnächst auch für die undurchsichtigen Geschäfte im Zusammenhang mit der Versteigerung der Zementfabrik FANCESA verantworten, die 1999 von dem Unternehmen SOBOCE geschluckt wurde. Bei SOBOCE war Medina bis Ende 2014 Mehrheitseigner. Um Beschlagnahmungen zuvorzukommen, verkaufte er seine 51-Prozent-Anteile an SOBOCE für 300 Millionen US-Dollar an Teilhaber aus Chile. Der hastige Verkauf habe nichts mit den Ermittlungen zu tun, sagte Medina. »Ich will mich in Zukunft voll und ganz der Arbeit für mein Land widmen«, erklärte er.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 20. Januar 2015


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