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Zwischen Verbot und Kontrolle

Zum bolivianischen Kindertag am 12. April soll die Kinderarbeit neu geregelt werden *

Kinderarbeit verbieten oder kontrollieren? In Bolivien ist man um einen Kompromiss zwischen internationalen Standards und sozialer nationaler Praxis bemüht.
Deivid Pacosillo Mamani ist ehemaliger Kinderarbeiter in Bolivien. Der heute 25-Jährige war Sprecher der UNATSBO (Unión de Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores de Bolivia), der Gewerkschaft der Kinderarbeiter Boliviens, für die er weiterhin ehrenamtlich arbeitet. Im Vorfeld des bolivianischen Kindertages (Dia del niño) am 12. April sprach mit ihm Knut Henkel.



In Bolivien wird derzeit die Novelle des Kinder- und Jugendgesetzes beraten. Das Parlament wird in naher Zukunft darüber abstimmen.Worum geht es?

Die Novelle ist für die arbeitenden Kinder und Jugendlichen ein wichtiges Ereignis. Wir haben lange dafür gekämpft. Die UNATSBO, die Gewerkschaft der arbeiten Kinder und Heranwachsenden von Bolivien, wurde im Mai 2003 gegründet, um Einfluss auf die Bestimmungen und Vorgaben im nationalen Kodex für Kinder und Jugendliche zu nehmen. Dafür haben wir einen eigenen Gesetzesvorschlag basierend auf unendlich vielen Vorschlägen von Kindern und Jugendlichen ausgearbeitet.

Wurde der berücksichtigt?

Zu Beginn nicht, denn die Betroffenen, eben die Delegierten der UNATSBO wurden nicht eingeladen. Dann sind die minderjährigen Arbeiter im Dezember letzten Jahres auf die Straße gegangen und haben verlangt mit den Abgeordneten zu sprechen. So einen Marsch hat es in Bolivien noch nicht gegeben. Doch er endete im Tränengas, und die Bilder von Polizisten, die Kinder abführten gingen um die Welt. Erst danach kam es zu Gesprächen mit den Parlamentariern der Kommission und dem Präsidenten Evo Morales, der selbst gesagt hat, dass die Arbeit für die Kinder auch eine soziale Erfahrung ist. Folgerichtig ist Kinderarbeit nicht ausschließlich negativ und gehört nicht pauschal verboten wie es auf internationale Ebene gern verlangt wird.

Was fordern die Kinderarbeiter?

Wir fordern, dass das Verbot der Kinderarbeit modifiziert wird. Wir wollen das konkrete Beschäftigungsverhältnisse für Kinder unter zwölf Jahre verboten werden, nicht aber die Arbeit. Sie soll mit Sondergenehmigungen wie zum Beispiel für Filmaufnahmen, das Modeln möglich sein. Ab 14 Jahren soll die Arbeit dann ohne Sondergenehmigungen möglich sein. Unser Ziel ist es ein anderes Bewusstsein zu schaffen, wir wollen das Ausbildung und Arbeit parallel möglich sind. Es ist eine Tatsache, dass das Geld in vielen Familien ohne die Arbeit der Kinder nicht reicht.

Welche Rolle hat Kinderarbeit in Bolivien?

Eine wichtige. Ich komme aus El Alto, einer von Migranten oberhalb von La Paz gegründeten Stadt, die sich zum Umschlagpunkt für alle möglichen Güter entwickelt hat. Dort arbeiten rund 30 000 Minderjährige. Nach den Zahlen des Arbeitsministeriumslandesweit sind es landesweit 850 000. Oftmals ist die Kinderarbeit in Bolivien familiär geprägt, die Kinder helfen ihren Eltern im Geschäft oder auf dem Feld und viele Eltern sind der Meinung, dass die Kinder auch lernen müssen zu arbeiten. Das ist ein Stück Normalität in El Alto, wo ich aufgewachsen bin und wo ich von klein auf gearbeitet habe.

In welchem Bereich?

Als Ausrufer an einer Bushaltestelle. Die Busfahrer brauchen jemanden der den Passagieren sagt, wo es hingeht, der kassiert und sich um alles kümmert, während sie fahren. Später habe ich auf dem Markt gearbeitet und Ware angepriesen. In El Alto habe ich mit anderen Kinderarbeitern die erste Organisation der Kinderarbeiter (Connatsdea) gegründet.

Wovon lebt Ihre Familie?

Wir haben eine kleine Werkstatt, produzieren Schuhe. Das funktioniert halbwegs. Ich habe hingegen Pädagogik studiert und arbeite mittlerweile für die Nichtregierungsorganisation Wiphala, die mit arbeitenden Kinder und Jugendlichen arbeitet, die familiäre Probleme haben.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen im Kontext der Kinderarbeit?

Wir brauchen gesetzliche Vorgaben, die auf reale Situation im Land abgestimmt sind. Es bringt nichts die Kinderarbeit zu verteufeln, sie zu verbieten. Dann wird sie im Verborgenen weitergeführt und die Ausbeutung der Kinder und Jugendlichen würde sich eher verschärfen und die Arbeitsbedingungen sich eher verschlechtern. Wir brauchen ein Kompromiss zwischen der Internationalen Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und unserer Forderung die Kinderarbeit zu tolerieren – auch für Kinder unter 12 Jahren.

Gibt es denn staatliche Institutionen und Kontrollinstanzen?

Lange nicht genug, weshalb auch immer wieder Fälle von massiver Ausbeutung von Kindern bekannt werden – bei der Zuckerrohrernte, in Bergwerken oder in der Prostitution. Da gibt es Bedarf auf polizeilicher Ebene, aber auch bei den Ministerien und in der Justiz.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 11. April 2014


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