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Machtwechsel in Bolivien: Die Geduld des Zweifels

Evo Morales steht als erstem indigenen Präsidenten seines Landes ein Balanceakt bevor

Von Benjamin Beutler*

Als es an seinem klaren Wahlsieg keinen Zweifel mehr gab, bedankte sich Evo Morales ausdrücklich bei der privaten Unternehmerschaft wie den städtischen Mittelschichten Boliviens für ihren Beistand. Das klang nach subtiler Ironie, war aber mehr als vorausschauende Umarmungstaktik gedacht. Ohne die Unterstützung oder zumindest Duldung durch die genannte Klientel wird sich der ärmste Staat Südamerikas kaum stabil regieren lassen.

Neben dem Präsidenten, einem Vizepräsidenten und dem Parlament wurden am 18. Dezember erstmals auch die Präfekten der neun Departements direkt gewählt. Sie können nun mit darüber entscheiden, ob und wie die politische Macht in Bolivien umverteilt wird. Mit dem Triumph von Morales und seiner Partei Movimiento al Socialismo (MAS) ist ein seit 180 Jahren - seit der Staatsgründung - geltender Status quo in Frage gestellt.

Der designierte Staatschef und sein Vizepräsident, der Soziologe García Linera, führen eine Allianz an die Macht, die sich größtenteils aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen der marginalisierten Aymara- und Quechua-Indígenas rekrutiert, der kulturellen und ethnischen Mehrheit Boliviens. Trotz aufwändiger Medienkampagnen, um das MAS-Führungsduo zu diskreditieren, gab es selbst bei offenbar manipulierten Umfragen eine schon vor dem 18. Dezember deutlich steigende Akzeptanz für die sich abzeichnende Präsidentschaft eines Indios, was ganz entscheidend der integrativen Wirkung des hellhäutigen Intellektuellen García Linera zu verdanken war. Mit ihm als Frontmann erschien die Bewegung zum Sozialismus auch für den gebildeten urbanen Wähler als mögliche Alternative. Dennoch hatte niemand einen derart erdrutschartigen Sieg erwartet.

Die Parteienlandschaft Boliviens, bis dato geprägt durch eine an die Weimarer Republik erinnernde Hyperfragmentierung, hatte in den zurückliegenden Monaten eine bislang nie gekannte Polarisierung erfahren: Hier der Hoffnungsträger Morales, dort der neoliberale Gegenspieler Jorge Quiroge Ramirez mit seinem Bündnis Poder Democratico Social (PODEMOS). Andere Kandidaturen, wie die des politisch ambitionierten Zementmoguls Doria Medina und seiner Union Nacional (UN) blieben letztendlich irrelevant.

Das Programm des MAS gliedert sich in drei Blöcke. Boliviens Erdgasvorkommen - nach den Ressourcen Venezuelas die zweitgrößten Lateinamerikas - wie auch die anderen Bodenschätze werden bislang durch transnationale Unternehmen ausgebeutet. Das MAS will gemäß dem Ergebnis des 2004 abgehaltenen Referendums deren Nationalisierung in Angriff nehmen, was nicht auf eine Verstaatlichung hinauslaufen muss. Bestehende Verträge sollen nicht gekündigt, sondern durch Neuverhandlungen modifiziert werden. Mit anderen Worten: an Enteignungen ist trotz manch anders lautender Ankündigungen nicht gedacht. Nach dem Vorbild des brasilianischen Staatskonzerns PETROBRAS soll dessen bolivianisches Pendant YFPB gestärkt werden. Ein weiterer Aspekt ist die Land-Frage. MAS fordert eine Rückgabe der Ländereien aus privatem Besitz, die aus rein spekulativen Gründen nicht produktiv genutzt werden. Damit sind vorzugsweise Ländereien von Großagrariern im fruchtbaren Tiefland gemeint, die zuletzt immer häufiger von aus der Hochebene des Landes stammenden landlosen Familien besetzt wurden. Nicht selten gab es dabei Tote und Verletzte. Evo Morales hatte im Wahlkampf versprochen, diese Flächen teilweise neu zu verteilen. Da hier ein Exempel statuiert werden könnte, das an Brasilien und Venezuela erinnert, ist mit vehementem Widerstand der Latifundisten zu rechen.

Dritte Säule des Programms ist die Bildung einer - ebenfalls durch das Referendum von 2004 sanktionierten - konstituierenden Versammlung, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll. MAS verlangt, dass daran alle indigenen Bevölkerungsgruppen teilhaben, neben den Aymara und Quechua auch die Indio-Stämme aus dem amazonischen Tiefland.

Wie viel von dieser Programmatik zur Realität werden kann, hängt maßgeblich von zwei Faktoren ab: Von der Reaktion der abgewählten, aber immer noch einflussreichen Eliten und der Geduld der eigenen Anhänger. Die Protagonisten der alten Ordnung werden die ersten Schritte von Morales aufmerksam verfolgen, aber kaum als passive Beobachter abwarten, was geschieht. Es ist mit "venezolanischen Konflikten" zu rechnen, bei denen das bisherige Establishment nichts unversucht lassen wird, um verlorenes Terrain zurück zu erobern. Eine ungeduldige MAS-Wählerschaft mit einem ausgesprochen hohen Mobilisierungspotenzial könnte bei einer innenpolitischen Konfrontation schnell zum Bumerang für die neue Regierung werden, sofern spürbare Veränderungen - sprich: Reformen - ausbleiben. Als weiterer Konfliktherd gilt das Verhalten der US-Regierung, die bereits zu verstehen gab, dass sie an ihrem "Kampf gegen die Droge Koka" keinerlei Abstriche machen werde. Man muss kein Prophet sein, um vorher zu sagen, dass hier ein Junktim denkbar scheint: Wirtschaftshilfen gegen einen bolivianischen Part im Drogenkrieg - Otto Reich, bis 2003 Lateinamerika-Beauftragter der Regierung Bush, wurde in dieser Hinsicht bereits mehr als deutlich.

Dennoch, Bolivien könnte ein Beispiel dafür sein, wie ein radikaler, aber gewaltfreier Machtwechsel auf demokratischem Wege erstritten werden kann. Ohnehin erscheint das kontinentale Umfeld so günstig wie nie zuvor. Bei den mehr oder weniger linken Präsidenten Brasiliens, Argentiniens, Uruguays, Venezuelas und demnächst wohl auch Chiles (Michelle Bachelet) dürften das Bolivien des Evo Morales viel Sympathie finden.

* Aus: Freitag 51, 23. Dezember 2005


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