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Linker Durchmarsch bei Wahlen in Bolivien

Evo Morales bleibt Präsident / Bewegung zum Sozialismus erhält über zwei Drittel aller Sitze

Von Benjamin Beutler *

Boliviens erster Indio-Staatschef Evo Morales ist bei der Präsidentenwahl am Sonntag (6. Dez.) mit überragender Mehrheit wiedergewählt worden. Auch in beiden Häusern des Parlaments eroberte seine Bewegung zum Sozialismus (MAS) haushohe Mehrheiten.

Jetzt ist es amtlich. Boliviens neuer Präsident heißt wie der alte: Evo Morales Ayma. Bei der Wahlparty konnte sich der 50-Jährige nur mit Mühe für das eindeutige Wahlergebnis bedanken, zu laut waren die begeisterten »Evo, Evo«-Rufe Tausender Anhänger der regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS). »Ich möchte Danke sagen für diese demokratische Leistung. Was wir erleben, ist eine demokratisch-kulturelle Revolution im Dienste des Volkes. Dank dieses Bewusstseins schreibt das bolivianische Volk Geschichte«, rief Morales am Sonntagabend vom Balkon des Palacio Quemado in La Paz. Minuten zuvor waren die ersten Ergebnisse bekannt geworden: Das Doppel Morales und sein Vize Álvaro García Linera sind mit 63 Prozent die klaren Sieger der Wahl. Mit weitem Abstand folgen abgeschlagen auf Platz zwei der ehemalige General Manfred Reyes Villa (28 Prozent) und der Zementmillionär Samuel Doria Medina (sechs Prozent).

Neben den traditionellen MAS-Hochburgen im Andenhochland (La Paz und Oruro: 80 Prozent, Potosí: 77 Prozent) erreichte der Stimmenanteil für Blau-Weiß-Schwarz erstmals auch in den Tiefland-Departamentos Werte um die 40 Prozent. In Pando (49 Prozent) und Chuquisaca (52 Prozent) etwa konnte der Aymara-Indio die relative Mehrheit auf sich vereinen. Selbst im reichen Santa Cruz, Bastion der erbitterten MAS-Gegner und der Tiefland-Oligarchie, schaffte er mit 40 Prozent den zweiten Platz hinter Reyes.

Die viel beschworene politische Zweiteilung der Republik in Andenhochland und Tiefland ist dank neuer Allianzen der Regierungspartei und ihrer erfolgreichen Sozialpolitik obsolet. Der Rechtskonservative Reyes gestand die Niederlage schnell ein, sonst übliche Vorwürfe von Wahlbetrug blieben aus. Mit seiner Partei Fortschrittsplan Bolivien (PPB) stehe er bereit für eine »konstruktive Opposition zur Verteidigung der Demokratie«.

Viel demokratischer Gestaltungsspielraum bleibt Boliviens Regierungsgegnern allerdings nicht. Bei den zeitgleichen Kongresswahlen pulverisierte die bestens aufgestellte »Regierung der sozialen Bewegungen« die in sich zerstrittene Opposition. In der Abgeordnetenkammer eroberten die Sozialisten 85 der 130 Sitze, im Senat fielen 25 der 36 Sitze an die MAS. Die neu erkämpfte Zwei-Drittel-Mehrheit in den beiden Kammern der »Gesetzgebenden Plurinationalen Versammlung« macht dem Prozess des Wandels in Richtung »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« den Weg frei. Dahin führen soll vor allem die im Januar 2009 per Volksentscheid ratifizierte Magna Charta zur »Neugründung Boliviens«.

Der ehemalige Kokabauer Morales kündigte weitere Reformen an. Eine Rückkehr zum »vergangenen Modell« des Neoliberalismus werde es trotz der »Widrigkeiten, Lügen und Angriffe« von rechts nicht geben, sagte Morales am Sonntag. Die neue Verfassung »begünstigt die unterschiedlichen Arbeiterschichten«, der Umbau des Staates für mehr Demokratie durch Mitbestimmung und Teilhabe am wirtschaftlichen Reichtum für alle sei oberste Aufgabe für seine Regierungszeit bis 2015. Die gesamte Opposition, »zweifelnde Bürgervereinigungen, Bürgermeister, Unternehmer und Intellektuelle« forderte er auf, mit ihm »für Bolivien zu arbeiten«. Man sei »eine Regierung des Gesprächs und der Einigungen«, versuchte der Staatschef angesichts der neuen Machtfülle den Vorwurf autoritären Regierungsstils zu entkräften.

Ohne Rücksicht auf die neokonservative Opposition kann jetzt durchregiert werden. Die Neujustierung des Staates steht an, Ziele sind neben der vollen Gleichstellung der indigenen Bevölkerung die territorial-administrative Neugliederung mit mehr Selbstverwaltungsrechten für Departamentos, Regionen, Kommunen und erstmals indigenen Autonomien. Mehr Staat in Wirtschaft, Gesundheit und Bildung sollen die Industrialisierung (Lithium, Gas, Stahl) des Rohstofflieferanten Bolivien und eine effektive Armutsbekämpfung garantieren. Damit scheint in Bolivien der Weg frei zu sein für einen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« - eine Verantwortung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Dezember 2009


Neue Herausforderung

Evo Morales in Bolivien wiedergewählt

Von André Scheer **

Evo Morales darf sich freuen. Seine Wiederwahl und der erdrutschartige Sieg seiner Bewegung zum Sozialismus (MAS) bei der Abstimmung am Sonntag öffnen dem unter seiner Regierung begonnenen Veränderungsprozeß die notwendige mittelfristige Perspektive, um nachhaltige Ergebnisse zu zeitigen. Es ist auch ein Erfolg für das antiimperialistische Staatenbündnis ALBA, denn ein Großteil der Erfolge, die Bolivien in den vergangenen Jahren erreicht hat, wäre ohne die Arbeit kubanischer Ärzte und Lehrer und ohne die materielle Solidarität Venezuelas kaum denkbar gewesen. Die Integration Lateinamerikas eröffnet somit auch den ärmsten Ländern des Kontinents neue Perspektiven.

Allerdings wurde die Regierung von Evo Morales seit dessen Amtsantritt nie durch Wahlen und Abstimmungen gefährdet. Die größte Gefahr bestand im vergangenen Jahr, als die rechte Opposition in den reichen Departamentos des Landes - dem sogenannten »Halbmond« - zu offenem Terrorismus griff, um die demokratische Revolution Boliviens zu ersticken. Es wäre naiv zu glauben, daß die reaktionären Kräfte im Angesicht ihrer Wahlniederlage nun geknickt nach Hause gehen, um ihre Wunden zu lecken.

In Deutschland preschen Vertreter der Regierungsparteien bereits vor. Der entwicklungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Holger Haibach, und sein Kollege Bernhard Kaster fordern die wiedergewählte sozialistische Regierung Boliviens auf: »Diese Chancen sollten nicht durch die Kooperation mit sozialistischen, undemokratischen Regimen in Südamerika gefährdet werden. Insbesondere der Einfluß Venezuelas und Kubas ist für die Entwicklung Boliviens schädlich.«

Honduras warnt. Präsident Zelaya wurde nicht von den Wählern gestürzt, sondern von den Militärs und der Oligarchie des Landes, die ihre Herrschaft mit blutiger Unterdrückung der Proteste festigen konnten. Die Resolutionen der internationalen Organisationen blieben wirkungslos, während hinter den Kulissen in Washington und andernorts die Anerkennung des Putschregimes vorbereitet wurde.

Auf die Herausforderung des offenen Terrors gegen demokratisch gewählte Regierungen wie auch der militärischen Bedrohung der revolutionären Prozesse Lateinamerikas - zum Beispiel durch die neuen US-Militärbasen in Kolumbien und Panama - sind die Mitglieder der Bolivarischen Allianz ALBA noch nicht ausreichend vorbereitet. Über Erklärungen und Petitionen hinausgehende Maßnahmen gegen die Putschisten in Honduras standen ALBA nicht zur Verfügung. Die Regierungen Boliviens, Ecuadors, Kubas, Nicaraguas, Venezuelas und der Karibikstaaten haben die Mehrheit ihrer Bevölkerungen ganz offensichtlich hinter sich, das konnten sie durch unzählige Wahlen und Volksabstimmungen immer wieder beweisen. Doch wenn es hart auf hart kommt, gilt noch immer die alte Weisheit, daß die politische Macht aus den Gewehrläufen kommt.

** Aus: junge Welt, 8. Dezember 2009


Triumph für Morales

Von Martin Ling ***

Evo Morales hat die Königsetappe im Neugründungsprozess Boliviens gewonnen: Mit dem Dreifachtriumph bei Präsidentschafts-, Parlaments- und Senatswahlen ist der Weg für die Konsolidierung seines Reformprojekts frei. Und das, nachdem das Land noch vor einem Jahr dem Bürgerkrieg entgegentrudelte und nur schmerzhafte Zugeständnisse von Morales und der Bewegung zum Sozialismus (MAS) an die alte Elite die Verabschiedung der Magna Charta überhaupt ermöglichten.

Formell war die Neugründung Boliviens mit der Nationalisierung der Ressourcen, der Landreform und der neuen Verfassung schon Anfang Februar abgeschlossen. Erst nun aber hat Morales die Mehrheiten im Parlament und Senat, die es erlauben, den Prozess zu vertiefen. Die neue Verfassung, die den plurinationalen Charakter Boliviens erstmals anerkennt, kann nun Realität werden. Quechua, Aymara, Guaranis, Mestizos, Weiße, Afrobolivianer - auf dem Papier haben alle die gleichen Rechte, in der Wirklichkeit gilt das noch lange nicht, der Weg dahin steht nun offen. Denn die alten Eliten sind seit der Wahlniederlage entscheidend geschwächt. Ein Putsch wie in Honduras ist in Bolivien unvorstellbar.

Evo Morales kann den Umbau zu einer gerechteren Gesellschaft fortsetzen. Dass er dabei formal keine Rücksicht mehr auf die Opposition nehmen muss, ist Vorteil und möglicher Fallstrick zugleich. Morales ist sich dessen bewusst, hoffentlich auch seine mit Recht ungeduldige Basis.

*** Aus: Neues Deutschland, 8. Dezember 2009 (Kommentar)


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