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Für die Volksmacht

Mehr Kontrolle von unten in Bolivien: Linksregierung baut politisches System um

Von Benjamin Beutler *

Boliviens soziale Bewegungen und Gewerkschaften wollen mehr Einfluß. Mit der regierenden »Bewegung zum Sozialismus (MAS) verbündete Basisorganisationen haben Präsident Evo Morales in der vergangenen Woche einen Gesetzentwurf überreicht, der die Steuerung von Staat, Politik und Wirtschaft durch die Basis entscheidend stärken soll. »Die gesellschaftliche Kontrolle wird bei allen staatlichen Instanzen und gewählten Politikern zur Anwendung kommen«, kündigte Julia Ramos, Generalsekretärin der Frauenorganisation »Bartolina Sisa«, am Sonntag gegenüber der Tageszeitung La Razón an. Allerdings werde keine neue »Übermacht« entstehen, die Entscheidungen zu treffen bleibe Aufgabe der Exekutive. Die Basisgruppen würden lediglich Vorschläge unterbreiten und die Transparenz der öffentlichen Verwaltung kontrollieren.

Gustavo Aliaga vom »Bündnis interkultureller Gemeinden« (CSICB) geht noch weiter. »Wir wollen auch private Institutionen kontrollieren«, sagte er wenige Tage zuvor derselben Zeitung. Auch Nichtregierungsorganisationen, die im ärmsten Land Südamerikas vor allem von ausländischen Geldgebern finanziert werden, sowie die weitverbreiteten Genossenschaften im Bergbau, Bankensektor und in der Landwirtschaft könnten von Kontrollkomitees überwacht werden. Diese sollen aus ehrenamtlich tätigen Einzelpersonen oder Gremien der Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und indigenen Vertretungen gebildet werden.

Eine Verabschiedung des »Gesetzes für Beteiligung und gesellschaftliche Kontrolle« durch das Parlament gilt als sicher. Die Machtverhältnisse sind klar, und die hoffnungslos ideenlose und zerstrittene Opposition hat dem Projekt kaum etwas entgegenzusetzen. Passiert der Gesetzentwurf das von der MAS kontrollierte Parlament und gibt der Staatschef anschließend grünes Licht, wird Bolivien künftig über ein »Superministerium der sozialen Bewegungen« verfügen.

Auch unter der seit 2005 regierenden MAS sind Korruption und Vetternwirtschaft ein Problem der bolivianischen Politik geblieben. Zu oft sorgten in der Vergangenheit Skandale in Staatsfirmen für Unmut. So mußte das Energieunternehmen YPFB, das seit der Verstaatlichung 2006 Milliarden US-Dollar in die öffentlichen Kassen spült, bereits mehrfach sein Management wegen Unzuverlässigkeit austauschen. »Fehler dürfen hier nicht mehr möglich sein«, erklärte die aus einer Bauernfamilie stammende Ramos, die schon Parlamentsvizepräsidentin und als erste indigene Frau Boliviens Justizministerin war.

Die Maßnahmen der Führung des Andenlandes, das noch immer als eines der korruptesten Länder der Welt gilt, hat bereits zu ersten Panikattacken von Oppositionspolitikern und Kommentatoren geführt. Warnungen, Bolivien stehe vor der »Einführung von Sowjets«, versuchte man im Regierungspalast an der Plaza Murillo jedoch umgehend zu zerstreuen. Der Umbau des politischen Systems vollziehe sich auf dem Boden der Verfassung, die 2009 per Referendum verabschiedete worden war: »Die gesellschaftliche Kontrolle ist keine Supermacht, das Staatsorgane und nichtstaatlichen Institutionen reguliert, sondern stellt ein Recht aller Bolivianer dar«.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 06. November 2012


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