Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Bolivien neu gegründet

Von Benjamin Beutler *

»Heute, am 25. Januar 2009, gründet sich Bolivien als ein Land der Chancengleichheit für alle neu«, bejubelte Boliviens Staatspräsident Evo Morales kurz nach Bekanntgabe erster Wahlergebnisse die formale Annahme der neuen Verfassung. 3,9 Millionen Stimmberechtigte waren am Sonntag aufgerufen, darüber zu entscheiden. Nach vorläufigen Auszählungsergebnissen haben um die 61 Prozent mit »Ja« gestimmt, rund 36 Prozent hätten das »Nein« auf dem Stimmzettel angekreuzt. Das Oberste Nationale Wahlgericht (CNE) lobte die mit 90 Prozent »historisch hohe Wahlbeteiligung«. Internationale Beobachterkommissionen sprachen von einer »fairen Wahl«. Vom Balkon des »Palacio Quemado« der Hauptstadt La Paz richtete sich Morales an die »am meisten Erniedrigten und Ausgegrenzten, die Bauern und Indígenas«. Vor den zu Tausenden zur »Plaza Murillo« gekommenen Anhängern der Regierungspartei »Regierung zum Sozialismus« (MAS) verwies Morales auf den Geist der neuen Magna Charta: »Hier und heute ist Schluß mit dem inneren und äußeren Kolonialismus«. Noch vor 50 Jahren war der indigenen Bevölkerungsmehrheit der Zutritt zur allseits beliebten »Plaza Murillo« zwischen Regierungssitz, Parlament und Kathedrale verboten. Heute hingegen »gehen wir von Sieg zu Sieg«, freute sich Lateinamerikas erster indigener Präsident über den dritten demokratischen Abstimmungserfolg seit seiner Wahl 2005 (54 Prozent) und einem Amtsenthebungsreferendum 2008 (64 Prozent). »Die Versteigerung des Landes ist beendet«, nahm Morales Bezug auf das verfassungsrechtliche Privatisierungsverbot von Bodenschätzen und Grundbedürfnissen. »Die Verräter, die Bolivien verscherbelt haben, sind erneut besiegt worden vom Gewissen des Volkes, das diesen Wandel garantiert«, so der MAS-Chef, dem Venezuelas Hugo Chávez sofort telefonisch zum »erreichten Sieg« gratuliert hatte. Vizepräsident Álvaro García Linera sprach vom »bedeutendsten politischen Moment in der republikanischen Geschichte«.

Widerstand kommt aus dem Tiefland. Zwar gewann das »Nein« nur in drei (Santa Cruz, Beni, Chuquisaca) der insgesamt sechs oppositionell dominierten Departamentos. Dennoch lehnte der Präfekt von Santa Cruz, Rubén Costas, die »rassistische und divisionistische Verfassung« ab, nur ein »sozia­ler Pakt« könne das Land vor Teilung und Gewalt retten. Auch Rechten-Führer Branko Marinkovic hatte seine Rede auf das vom Privat-TV sofort nach Schließung der Wahllokale verbreitete 60:40-Ergebnis abgestimmt, was eine Spaltung in Hoch- und Tiefland unterstellte. »Es gibt ein nationales Patt, das nur gelöst werden kann durch einen nationalen Pakt«, stellte der in den gescheiterten September-Putsch 2008 involvierte Vorsitzende des »Bürgerkomitees Pro Santa Cruz« Bedingungen. Tarijas oppositioneller Präfekt Mario Cossío forderte »Verhandlungen«; die Regierung habe »keine Mittel, die Verfassung durchzusetzen«.

Inhaltlich gilt die neue Verfassung als eine der sozialsten der Welt. Erstmals erhält die indigene Bevölkerungsmehrheit umfassende Rechte der kulturellen Selbstbestimmung und Verwaltung, Rechtsprechung, Zugang zu öffentlichen Ämtern. Der jetzt dezentrale Staat (departamentale, kommunale und indigene Autonomie) übernimmt die Kontrolle über strategische Wirtschaftszweige (Öl, Gas, Telekommunikation, Transport, Wasser, Strom). Zudem wurde eine Obergrenze für Landbesitz von 5000 Hektar festgelegt. Die Koka-Pflanze wird unter Schutz gestellt, und ausländische Militärbasen sind verboten.

* Aus: junge Welt, 27. Januar 2009


Formale Neugründung

Von Martin Ling **

Boliviens Neugründung ist formal abgeschlossen. Real bleibt noch ein weiter Weg zu gehen. Man darf Evo Morales seine Euphorie über die Zustimmung zur Verfassung nachsehen, doch 500 Jahre Kolonialismus und Großgrundbesitz sind noch nicht Geschichte, wie es der Präsident im Überschwang der Gefühle äußerte. Fraglos ist die neue Verfassung ein wichtiger Etappensieg auf dem Weg zur Neugründung Boliviens. Denn damit ist die Trinitas aus Verstaatlichung der Rohstoffe, Landreform und eben der neuen Magna Charta nun komplett.

Die Macht der alten Eliten ist angeknackst, doch längst noch nicht gebrochen. Das hat sich im Prozess der Verfassunggebenden Versammlung exemplarisch gezeigt. Abgestimmt wurde am Sonntag nicht die Vorlage, die die gewählte Verfassunggebende Versammlung ausgearbeitet hatte, sondern die verwässerte Fassung, die Morales im Kongress mit den Parteien des alten Establishments aushandelte – nachdem die rechte Opposition aus dem Tiefland zuvor monatelang das Land mit Blockaden bis hin zum Putschversuch gelähmt hatte. Ihr Erfolg: Die Landbesitzverhältnisse bleiben in der neuen Verfassung rückwirkend unangetastet.

Die Zustimmungsrate zur Verfassung spiegelt die Kräfteverhältnisse in etwa wider: 60 Prozent wollen eine Neugründung, 40 Prozent sind dagegen und im Tiefland wird auch künftig vermutlich alles getan, um real eine Neugründung zu verhindern. Laut Verfassung hat die bisher von sozioökonomischen Rechten weitgehend ausgenommene indigene Bevölkerung nun einen besseren Stand. Eine reale Chancengleichheit ist noch Utopie. Erst wenn sie erreicht ist, ist der Kolonialismus Geschichte.

** Aus: Neues Deutschland, 27. Januar 2009 (Kommentar)




Zurück zur Bolivien-Seite

Zurück zur Homepage