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"Die Verfassung ist für alle"

Silvia Lazarte über die Angst vor Veränderung in Bolivien

Silvia Lazarte gilt als Symbolfigur des Aufbruchs in Bolivien, der zu einer Neugründung des Staates führen soll. Die indigene Bäuerin wohnt in einer Holzhütte ohne Wasser und Strom. Sie wurde zur Präsidentin der Verfassunggebenden Versammlung gewählt, deren Werk der Kongress nach hartem Ringen inzwischen zur Volksabstimmung im Januar freigegeben hat. Über Inhalte und Ziele der neuen Verfassung sprach mit Silvia Lazarte für ND (Neues Deutschland) Benjamin Beutler.

ND: Ende Januar 2009 findet ein Referendum zur Annahme einer neuen Verfassung statt. Woher kommt die Forderung nach einer neuen Magna Charta, von der Vizepräsident Álvaro García Linera sagt, sie sei eine »Landkarte der Kämpfe verschiedener sozialer Sektoren«?

Lazarte: Unser Kampf dauert schon lange. Seit dem »Marsch der Würde« tausender Tiefland-Indigener 1990 haben die Bolivianer Kongress und Regierung wiederholt um die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) gebeten. Das Ziel: Tiefgehender Wandel über die Ausarbeitung einer neuen Magna Charta. Dank dieser Kämpfe wurde die VV schlussendlich einberufen, ein Vorgang, den kein Präsident zuvor umsetzen wollte. Dank der Gewissenhaftigkeit unseres Bruders und aktuellen Präsidenten Evo Morales Ayma haben 2006 VV-Wahlen stattgefunden. Gewählt wurden Männer und Frauen aus allen Sektoren der Gesellschaft. Ich zum Beispiel bin Indigene, Frau und aus Santa Cruz. Über die Frauenorganisation »Bartolina Sisa« wurde ich nominiert und habe mich gegen starke politische Konkurrenz durchgesetzt. Dass ich Präsidentin der VV geworden bin, ist für Boliviens Geschichte einmalig. Nie zuvor wurden Frauen, Indigene, Bauern, Arme berücksichtigt, nie zuvor gründete die Verfassung auf Konsens. Stattdessen entschieden 40 Juristen hinter verschlossenen Türen über das Schicksal aller Bolivianer. Diese VV hingegen ist in hohem Maße repräsentativ. Zählt der Kongress vier politische Parteien, so setzt sich die VV mit ihren 255 Abgeordneten aus 16 Gruppierungen zusammen. Über Sozialforen in allen Departamentos haben wir die Vorschläge aller Bolivianer in den Verfassungstext eingearbeitet, verabschiedet im Dezember 2007 in Oruro.

Was unterscheidet die neue von der alten Verfassung?

Die neue Verfassung schließt keinen aus und gilt für alle: Recht auf die eigene Sprache, auf die eigene Kultur, neue Formen der Selbstverwaltung auf allen Ebenen, gerechte Verteilung der Gewinne aus Bodenschätzen, Privatisierungsverbot natürlicher Ressourcen wie Wasser und Energie. Wir wollen einen tiefen Wandel der bolivianischen Gesellschaft, ein menschenwürdiges Leben für alle – und darum stoßen wir auf heftigen Widerstand.

Welchen Wandel befürchten die Verfassungsgegner?

Das ist vor allem die Landfrage, über die ein beratendes Referendum parallel zum Ratifizierungsreferendum entscheidet. Soll ein Unternehmer maximal 5000 oder 10 000 Hektar Land besitzen? Dafür wird es einen Passus in der neuen Verfassung geben. Während einer der größten Verfassungsgegner und Vorsitzender des regierungsfeindlichen »Bürgerkomitees Pro Santa Cruz« Branko Marinkovich über 6000 Hektar sein eigen nennt, haben viele Bolivianer nicht mal einen Hektar zum Wohnen. Es kann nicht sein, dass die einen vor Hunger sterben, während andere Land anhäufen. Darum ist Landbesitz zukünftig verfassungsrechtlich an die Erfüllung einer sozialen Funktion geknüpft.

Im Kongress verweigerte die Rechte bis zuletzt ihre Zustimmung zum Referendumsgesetz. Der »Nationale Pakt« zwischen der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) und der parlamentarischen Opposition war geknüpft an die nachträgliche Änderung von knapp 150 aller 400 Verfassungsartikel durch den Kongress. Spiegeln sich die Kämpfe der sozialen Bewegungen da noch wieder?

Ja, denn die neue Verfassung ist für alle. Arm und Reich sind vertreten. Privateigentum wird respektiert – aber unter Einhaltung der Erfüllung der sozialen Funktion. Das hat die Opposition akzeptiert. Einmal angenommen, wird die Gesetzgebung der neuen Verfassung angepasst, wobei ein großer Interpretationsspielraum bleibt. Auch durch das Dezember 2009 neu gewählte Parlament können bei Bedarf Verfassungsänderungen vorgenommen werden. Die sozialen Bewegungen müssen weiter dafür sorgen, dass Regierung und Legislative in ihrem Sinne arbeiten. Darum sehe ich in der Modifikation der Verfassungsartikel kein Problem, auch wenn radikale Linke jetzt »Verrat« schreien.

Die ursprüngliche Version garantierte »zurückliegend legal erworbene Rechte«, nun ist nur von »zurückliegend erworbenen Rechten« die Rede. Schützt man damit nicht Besitzstände von Latifundisten und Öl-Multis, die Landbesitz und Förderkonzessionen zu Zeiten vergangener Militärdiktaturen sowie neoliberal-korrupter Regierungen illegal erworben haben?

Egal wie man diese Frage auslegt: Unsere Entscheidung für den »Nationalen Pakt« wurde zur Befriedung des Landes getroffen. Beim Massaker von Pando Mitte September wurden unzählige Bauern von Mitarbeitern des Pando-Präfekten Leopoldo Fernández massakriert. Zwischen uns Genossen und der Regierung wird es wegen des »Nationalen Pakts« mit Teilen der Opposition nicht zu Streit kommen. In Bolivien ist der Wandel ein schrittweiser Prozess, den wir vorantreiben und der an dieser Stelle nicht aufhören wird. Wir mussten uns mit der Rechten einigen und endlich zum Referendum kommen. Spätere Verfassungsreformen werden sicher passieren – aber nicht jetzt.

Der Pakt als MAS-Strategie zwecks Verabschiedung der neuen Verfassung ...

Damit eins noch mal ganz klar ist: Die Verfassung ist nicht nur von der MAS. Die sozialen Bewegungen, die sich im »Nationalen Rat für den Wandel« (CONALCAM) zusammengeschlossen haben, vertrauen zwar der Regierungspartei und ihrer proklamierten »Politik des Wandels«. Der CONALCAM hat eigenständig zehntausende Genossen mobilisiert, die im Oktober quer durch Bolivien nach La Paz marschiert sind, um den Kongress zur Annahme des Referendumsgesetzes zu bewegen. Wir alle sind uns mit der MAS von Anfang an einig gewesen. Auch ist die Verfassungsdiskussion mit dem Referendum nicht beendet. Aber erst einmal muss sie angenommen werden.

* Aus: Neues Deutschland, 18. November 2008


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