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Streit um Referendum

Niederlage für Präsident Morales in Bolivien: Oberstes Wahlgericht erklärt Abstimmung über neue Verfassung für unzulässig. Regierung kontert

Von Francisco Alvarez *

Das Oberste Wahlgericht in Bolivien hat sich am Montag überraschend gegen ein geplantes Referendum über die Reform der Verfassung ausgesprochen. Die Abstimmung war am vergangenen Donnerstag von Präsident Morales per Dekret auf den 7. Dezember festgesetzt worden. Dann soll auch über eine Obergrenze für Landbesitz entschieden werden. In den Departements La Paz und Cochabamba ist zudem eine Neuwahl der Präfekten angesetzt worden, nachdem sie dort bei dem letzten Plebiszit am 10. August abgewählt wurden.

Nach Ansicht des Vorsitzenden am Obersten Wahlgerichtshof, José Luis Exeni, kann nur das Parlament ein Verfassungsreferendum ansetzen. In diesem Fall stünde es schlecht um das Vorhaben, mit dem den indigenen Einwohnern mehr Rechte gegeben und der Reichtum des Landes gerechter verteilt werden soll. Denn im Oberhaus des Parlaments haben die Regierungsgegner eine strukturelle Mehrheit.

Vertreter der linksgerichteten Staatsführung widersprachen der Einschätzung des Gerichtshofes umgehend. Der Rechtsbeauftragte der Regierung Hector Arce verwies nach Angaben der Nachrichtenagentur Europa Press auf eine Zwei-Drittel-Entscheidung, mit der das Parlament dem Reformvorhaben bereits im Februar zugestimmt hatte. Ein erneutes Votum sei deswegen nicht erforderlich. Das Dekret Nummer 29691 des Präsidenten sei hingegen »voll gültig, es stützt sich auf die Verfassung und muß deswegen von dem Obersten Wahlgericht durchgesetzt werden«.

Zugleich hatte das Richtergremium auf eine Reihe nachvollziehbarer Unstimmigkeiten hingewiesen. So sei die Neuwahl für die Präfekten von La Paz und Cochabamba mit nur 102 Tagen Vorlauf angesetzt worden, das Gesetz sehe jedoch 120 Tage vor. Angestrebten Autonomiereferenden von den regierungsfeindlichen Lokalchefs in den Departements Santa Cruz und Chuquisaca erteilt das Gericht ebenfalls eine Absage.

Politisch argumentierte der Vizeminister für Soziale Bewegungen und die Zivilgesellschaft, Sacha Llorenti, gegen den Entscheid der Richter. Die Verfassungsreform entspreche nicht nur einer »historischen Notwendigkeit«, sie würde auch auf der Basis geltenden Rechts durchgeführt.

* Aus: junge Welt, 3. September 2008


Quo vadis, Bolivien?

Von Patrick Widera ** Boliviens Oberstes Nationales Wahlgericht (CNE) hat es abgelehnt, das für den 7. Dezember angesetzte Verfassungsreferendum zu organisieren. Das CNE beharrt damit auf der Position, dass neben der verfassunggebenden Versammlung auch die beiden Kammern des Parlaments ihre Zustimmung zum endgültigen Verfassungstext geben müssen, bevor dieser dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden darf. In diesem scheinbar formalen Akt widerspiegelt sich die ganze Dramatik der schwierigen Neugründung der bolivianischen Gesellschaft. Nach der Entscheidung des CNE liegt es nun faktisch in der Hand des oppositionell dominierten Senats, die Abstimmung über die neue Verfassung zuzulassen oder abzulehnen. Damit bekommen letztlich jene Kräfte die Entscheidungsgewalt über die Zukunft des Landes übertragen, die sich am entschiedensten gegen die mit der Verfassung verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen gestellt haben. Ein Scheitern der Verfassungsreform wäre aber nicht nur eine persönliche Niederlage für Evo Morales, sondern eine Niederlage für alle linken Kräfte in Lateinamerika, die dem Neoliberalismus die Stirn bieten. Und damit auch für die Linken in Europa, die aus der Entwicklung in Lateinamerika neue Kräfte und Perspektiven für den Kampf um eine solidarische und humanistische Gesellschaft beziehen.

** Aus: Neues Deutschland, 3. September 2008 (Kommentar)




Referendum gestoppt

Bolivien: Verfassungsfrage soll ins Parlament ***

Boliviens Wahlgericht hat ein Referendum über die Verfassungsreform abgelehnt. Das Ringen um ein demokratisches Grundgesetz geht damit weiter.

Boliviens oberste Wahlbehörde hat die vom linksgerichteten Präsidenten Evo Morales angestrebte Volksabstimmung über die Verfassungsreform abgelehnt. Es sei Aufgabe des Parlaments, darüber zu entscheiden, sagte der Vorsitzende des Nationalen Wahlgerichts (CNE), José Luis Exeni, am Montag (1. Sept.) vor Journalisten. Das gelte auch für das von Morales geplante Referendum zur Agrarreform.

Für Morales, der die beiden Referenden per Dekret für den 7. Dezember angesetzt hatte, bedeutet die Entscheidung einen schweren Rückschlag. Die am gleichen Tag vorgesehene Neuwahl von Gouverneuren für die Departamentos La Paz und Cochabamba bedarf nach Auffassung der Wahlbehörde ebenfalls der Überprüfung. Die beiden bisherigen Gouverneure waren am 10. August bei einer Volksabstimmung abgewählt worden. Am gleichen Tag war Morales mit mehr als 67 Prozent der Stimmen aus einem Referendum über die Fortsetzung seiner Politik gestärkt hervorgegangen.

Die Gouverneure der Departamentos Santa Cruz, Beni, Pando, Tarija und Chuquisaca hatten bereits Widerstand gegen die Referenden angekündigt. Die Regionalregierungen werden von liberalkonservativen Großgrundbesitzern und Unternehmern beherrscht. Um die Volksbefragungen verhindern zu können, kündigten sie unter anderem den Aufbau einer eigenen Polizei an.

Die neue Verfassung sieht unter anderem vor, die Stellung der armen indigenen Bevölkerungsmehrheit im Westen des Andenstaates gegenüber den wohlhabenden Nachfahren europäischer Einwanderer im Osten zu stärken. Morales war 2005 zum ersten indigenen Präsidenten des südamerikanischen Landes gewählt worden.

*** Aus: Neues Deutschland, 3. September 2008


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