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Die Wut der Weißen

Bolivien: Im Konflikt um die neue Verfassung kommt das koloniale Erbe des Landes zum Vorschein

Von Benjamin Beutler *

Das sonst so beschauliche Sucre hat dramatische Szenen erlebt. In der 200.000 Einwohner zählenden Stadt tagte seit einigen Monaten die Verfassungsgebende Versammlung. Je näher die Abstimmung Ende November über die Eckpunkte der Magna Charta rückte, desto erbitterter wurde der Konflikt zwischen Regierung und Opposition. Die abschließende Beratung musste aus Sicherheitsgründen gar in eine Kaserne außerhalb der Stadt verlegt werden. 136 anwesende Wahlmänner billigten schließlich den Entwurf - die Opposition boykottierte das Votum und nannte die Tagung "illegal".

In der Stadt brannten derweil Polizeistationen, bei der anschließenden Konfrontation mit den Sicherheitskräften starben drei Menschen, wobei unklar blieb, wer die tödlichen Projektile abgefeuert hatte. Gegenseitig beschuldigte man sich des Einsatzes von Scharfschützen.

Eine zweite Abstimmung Mitte Dezember verlief ruhiger, als es um Detailbestimmungen der neuen Konstitution ging. Doch offenbar will die Opposition die Gangart weiter verschärfen. Seit dem Amtsantritt von Evo Morales vor knapp zwei Jahren hatte sie sich zunächst mit Streiks und Verfassungsklagen begnügt, seit einiger Zeit bläst sie zum direkten Angriff. Schon vor dem Votum im November musste die Verfassungsgebende Versammlung zwei Monate lang zwangsweise pausieren. Geschuldet war dies der unsicheren Lage in Sucre. Permanent hatten Regierungsgegner indigene Vertreter des MAS (Bewegung zum Sozialismus) auf offener Straße angegriffen und mit rassistischen Tiraden überhäuft. Die oppositionellen Präfekten der Tieflandregionen riefen zum "zivilen Ungehorsam" auf, erklärten Präsident Evo Morales zur "persona non grata" und forderten das Militär zur Befehlsverweigerung auf. Währenddessen trommelte die bürgerliche Presse - MAS und Morales trieben Bolivien in den Bürgerkrieg.

Von Südafrika lernen

All dies kann dem Vertrauen der Bevölkerung in die Politik des MAS wenig anhaben. Die Reputation der Regierung beruht nicht allein auf dem Umstand, dass sie Gas- und Ölwirtschaft staatlicher Kontrolle unterworfen hat. Die Regierung Morales verdankt ihre Popularität ganz erheblich einem energischen Eintreten für die Rechte der bis heute marginalisierten indigenen Bevölkerung.

Mit der ausgerufenen "demokratischen und kulturellen Revolution" wolle der MAS nicht nur den Neoliberalismus kontern, sagt der bolivianische Soziologe José Teijeiro. Vielmehr sei man entschlossen, endgültig mit der kolonialen Vergangenheit zu brechen. Bei Gründung der Republik Bolivien 1825 habe "eine reduzierte Oligarchie die Vertreter der Spanischen Krone ersetzt, aber die diskriminierende, ausgrenzende und unterdrückende Natur der Macht wurde nicht überwunden". Das Verhältnis Kolonialist - Sklave habe bis heute ungebrochen Bestand.

Die neue Verfassung soll unter dieses Kapitel endgültig einen Schlussstrich ziehen. Das garantiert ihr die breite Unterstützung der indigenen Mehrheit, sorgt aber für heftige Abwehrreaktionen bei der "reduzierten Oligarchie". Nicht zufällig hatte Evo Morales - der erste "indianische" Präsident in der Geschichte Südamerikas - auf seinen Antrittsbesuchen Anfang 2006 auch in Südafrika Station gemacht. Er wollte mehr über die Versöhnung nach der Apartheid erfahren. In seinen Reden, die er vor allem auf dem Land und vor Bauern indigener Herkunft hält, spricht er häufig von "Entkolonialisierung". Die jüngst verabschiedete UN-Erklärung der Rechte indigener Völker geht in die neue Konstitution ein, was allen Nationen Boliviens eine verfassungsrechtliche Gleichstellung garantiert. Dazu wird eine indigene Selbstverwaltung etabliert, traditionelle Medizin und Gerichtsbarkeit werden genauso geschützt wie Kultur und Sprache. Zudem erhalten die Indigenen Mitspracherechte in Ressourcenfragen. Gerade aufgrund dieser Bestrebungen hat die Opposition derart vehement versucht, die neue Magna Charta zu verhindern.

Nervosität macht sich breit

Wovor fürchtet sich die wirtschaftliche und selbsternannte politisch-kulturelle Elite des Landes? Die Verstaatlichungspolitik des MAS ist all denen ein Dorn im Auge, die jahrelang von den Privatisierungen profitieren konnten, die dem Land von Weltbank und IWF verordnet wurden. Überdies will der MAS die partizipative Demokratie stärken: Die Bürger sollen alle Inhaber politischer Ämter per Volksentscheid von ihren Funktionen entheben können - vom Präfekten einer Region bis zum Präsidenten selbst. Auch ein rückwirkendes Anti-Korruptionsgesetz sorgt für Unruhe bei der alten Elite. Am meisten scheint sie jedoch zu schmerzen, dass ein "Indio" das Land regiert - zu tief sitzt das rassistische Ressentiment.

Auch innerhalb des MAS macht sich Nervosität breit. Stimmen werden laut, die ein hartes Durchgreifen gegen die Opposition fordern. Sie verweisen auf Salvador Allende, der als Präsident Chiles Anfang der siebziger Jahre den stärker werdenden Faschismus unterschätzt habe; nur mit Verhandlungen sei kein Wandel zu erreichen. Vorrangig trotzkistische und radikal-indigenistische Strömungen kritisieren die vermeintlich "bourgeoise Haltung" des Präsidenten, der Privateigentum respektiert und mit transnationalen Unternehmen kooperiert. Zu sehr lasse er sich von seinen Beratern beeinflussen - weiße und kompromissbereite Akademiker -, statt sich seiner Herkunft als kämpferischer Kokabauer-Gewerkschafter zu besinnen.

Im September 2008 werden die Bolivianer per Referendum über den Verfassungstext entscheiden. Dann wird man wissen, ob Evo Morales einen weiteren Sieg errungen hat.

Die neue Verfassung

Staatsform
Bolivien ist ein "einheitlicher, sozialer, plurinationaler, kommunitärer, freier, autonomer, dezentralisierter, unabhängiger, souveräner, demokratischer und interkultureller Rechtsstaat".

Regionen
Selbstverwaltung der Departamentos; indigene und kommunale Autonomie.

Ökonomie
Prägend ist eine "gemischte Wirtschaft": Es gibt private, staatliche, kommunitäre und kooperativistische Formen

Eigentum
Privateigentum wird geschützt.

Öffentliche Güter
Wasser, Strom, Bildungs- und Gesundheitswesen dürfen nicht privatisiert werden.

Justiz
Traditionell-kommunitäre Rechtsvorstellungen halten Einzug.



* Aus: Freitag 51, 21. Dezember 2007


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