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Wähle deinen Richter selbst

Bolivien startet einzigartiges Experiment: Bevölkerung entscheidet über Spitzen der Justiz

Von Benjamin Beutler *

Im Oktober können die Menschen in Bolivien erstmals über die obersten Richter des Landes bestimmen – durch allgemeine Wahlen. »Es handelt sich hier um einen weltweit einzigartigen Prozeß«, erklärte am Sonntag (8. Mai) Héctor Arce, der Präsident der Abgeordnetenkammer, in der die Bewegung zum Sozialismus (MAS) mit einer bequemen Zweidrittelmehrheit regiert. Zu besetzen gilt es 54 Chefsessel für das Oberste Verfassungsgericht, den Obersten Gerichtshof, die Gerichte für Umwelt und Landwirtschaft und des Obersten Verwaltungsgerichts. »Nirgends auf der Welt hat ein Volk die Möglichkeit, die Vertreter der Justiz direkt zu wählen«, lobte der MAS-Politiker die »Dekolonisierung der Justiz«. Boliviens Demokratie sei für »diesen großen Sprung bereit«, so Arce. Auch Staatspräsident Evo Morales lobte die Entscheidung des Parlaments, das am Wochenende das entsprechende Gesetz verabschiedet und damit noch offene Vorgaben der neuen bolivianischen Verfassung umgesetzt hat. Das Ziel sei eine »Justiz der Gleichheit und Gerechtigkeit«, sagte Morales in der Fernsehsendung »Das Volk ist die Nachricht«. Bisher sei die Justiz von »Wirtschaft, Politik und Medien« gelenkt gewesen, nun werde es eine »echte Demokratisierung« geben.

Bevor das zuständige Oberste Wahlgericht (TSE) die Abstimmung in die Wege leiten kann, muß das Parlament zunächst noch die Richterposten offiziell ausschreiben. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist von 20 Tagen hat das Parlament dann 60 Tage Zeit, um aus den gültigen Eingaben per Zweidrittelmehrheit die geeigneten Kandidaten für die Wahl im Oktober zu bestimmen. Bewerben können sich keine Mitglieder von Parteien und Bürgervereinigungen, es gibt eine 50-Prozent-Frauenquote, erstmals wird Berufserfahrung aus indigener Rechtsprechung gleichgestellt mit westlicher Jurisprudenz. Nach dem Auswahlverfahren übernimmt schließlich das TSE das Ruder, entwirft die Stimmzettel, leitet die landesweite Informationskampagne, führt die Abstimmung durch und verkündet die Resultate. Dafür sieht das Gesetz vom Sonntag eine Frist von 90 Tagen vor.

Die Opposition schlägt Alarm. Die MAS-Regierung wolle »die Justiz enthaupten« und mit eigenen Leuten besetzen. Weil im Vorfeld der Richterwahl klassischer Wahlkampf nicht erlaubt ist, um eine »Politisierung« des Vorgangs auszuschließen, ist aus den Reihen der Regierungsgegner von »Zensur« und dem »Ende der Pressefreiheit« die Rede. »Die Situation ist doch die, daß wir einen Staat haben, in dem die Staatsbürger keine reale Mitbestimmung ausüben, die Wahl ist doch nur symbolisch, eine Formalität«, erklärte Centa Rek, Senatorin vom konservativen »Nationalen Zusammenschluß« (CN). Nur eine Expertenkommission der nationalen Juristenvereinigung dürfe die Kandidaten auswählen. »Allein das Parlament hat die vom Volk verliehene Legitimität«, kontert MAS-Senatorin Gabriela Montaño.

* Aus: junge Welt, 10. Mai 2011

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