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Das fürchterliche Kreuz und die "verfluchte Rasse"

Bolivien nach dem Referendum von Santa Cruz: Eine Republik schwebt zwischen Auflösung und Neugründung

Von Hugo Velarde *

Am 4. Mai hat sich in der bolivianischen Provinz Santa Cruz bei mäßiger Wahlbeteiligung eine Mehrheit für die Autonomie entschieden. Das Ergebnis des Referenduns wird von den Zentralregierung unter Evo Morales nicht anerkannt und als Schlag gegen die Einheit Boliviens gewertet. Der indigene Präsident sieht sich damit der schwersten inneren Krise seit seiner Amtsübernahme Anfang 2006 gegenüber.

Über La Paz, irgendwann im Jahr 1870, wird eine Anekdote erzählt, die jeder bolivianische Schüler kennt: Ein englischer Diplomat wird Opfer eines heiklen Zwischenfalls. Diktator Mariano Melgarejo bietet ihm ein Glas Chicha an, das Nationalgetränk aus fermentiertem Mais. Der Engländer bedankt sich, sagt aber, er zöge Schokolade vor. Melgarejo, mit seinem Feingefühl, lässt daraufhin einen riesigen Bottich Schokolade holen, den er seinen Gast auszutrinken zwingt. Danach führt er den sich erbrechenden Gentleman auf einem Maultier, rückwärts sitzend, durch die Straßen von La Paz vor. Als Königin Victoria in London davon erfährt, lässt sie sich eine Landkarte bringen, um zu verkünden, "Bolivien existiert nicht mehr" und das Land mit einem großen X aus Kreide durchzustreichen.

Neun Jahre später macht das Victorianische Empire ernst mit dem X, denn man unterstützt Chile im Salpeterkrieg (1879-1884), der Bolivien den Zugang zum Pazifik kostet. Gewiss, es handelt sich um ein kleines X, das aber eine schwere Identitätskrise auslöst und Brasilien 20 Jahre später ermuntert, das Acre-Gebiet zu besetzen, nachdem es als "unabhängige Acre-Republik" seine Autonomie verkündet hat. So verliert Bolivien zwischen 1879 und 1903 fast ein Fünftel seines Territoriums. "Bolivien hört peu à peu auf, als Land zu existieren", sind die Unionisten alarmiert, die eine feste Zentralregierung gegen immer wieder aufkommende separatistische Tendenzen verlangen. Aber erst der sinnlose Chaco-Krieg gegen Paraguay zwischen 1932 und 1935 bereitet dem territorialen Aderlass ein Ende. Der Nationalismus, der inzwischen Indigene und verarmte Mittelschichten erfasst hat, wird zur Kardinalfrage einer krisengeschüttelten Republik.

Es beginnt eine Zeit kalkulierbarer Kriege, die transnationale Konzerne und kapitalistische Metropolen gegen die Halbkolonien führen, ohne Territorialkonflikte zu entfachen. Lateinamerika und damit Bolivien bleiben berechenbar, während der Zweite Weltkrieg die Welt verändert. Die USA übernehmen die Kontrolle. "Klassische" Kriege in ihrem Hinterhof sind für ihre Machtinteressen eher kontraproduktiv.

"Autonomie ohne Scheißindios!"

Bolivien überlebt all diese Katastrophen, auch Dutzende Militärdiktaturen und Dutzende Staatskrisen, bei denen separatistische Drohungen aus allen Grenzregionen laut werden. Immer wieder kann sich das totgesagte Land aufrichten - auch wenn mehrmals ein tödliches Beil über seinem Kopf schwebt. Dem Ruf des Henkers - der nationalen Oligarchie im Bündnis mit Großbritannien oder dem US-Imperium -, das Land solle nach dem Beilschlag endlich "nicken", folgt Bolivien nie. Was denkt dieser Kopf, "der bolivianische Nationalgeist", vor dem angekündigten Exitus?

Santa Cruz de la Sierra, am Abend des 4. Mai 2008. Das Referendum über die Autonomie der größten und reichsten Region Boliviens wird ein Erfolg. Bei einer mit 61 Prozent schwachen Beteiligung - in Bolivien herrscht Wahlpflicht - votieren 85,1 Prozent mit Ja. Im Equipetrol, einem Reichenviertel, liest man: "Autonomie ohne Scheißindios! Macht ein Kreuz gegen den Antichrist Morales!"

Das Kreuz von Santa Cruz, das der Oligarchie neue Vitalität schenkt, hat das Land tief gespalten. Es vertieft den Antagonismus, dem sich auch radikal indigene Gruppen verschrieben haben, und kann die Republik an den Rand des Kollaps lotsen. Die "verfluchte Rasse", wie die Indigenen in Santa Cruz genannt werden, verflucht ihrerseits die "Ausländer europäischer Herkunft", die sich "als Bolivianer verkleidet und das Inka-Reich zerstört haben" und nunmehr auf ihre illegitimen Privilegien nicht verzichten wollen. Rasse gegen Rasse? Was für ein Irrsinn.

Die Krise eskaliert bereits 2006, als am 2. Juli parallel zur Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung - die von Evo Morales geführte Bewegung zum Sozialismus (MAS) erreicht dabei die einfache Mehrheit - ein Referendum abgehalten wird, in dem die neun Provinzen (Departamentos) bestimmen sollen, ob sie unter das Autonomiestatut fallen wollen. Während Pando, Beni, Santa Cruz und Tarija (der so genannte Halbmond oder media luna) mehrheitlich für die Autonomie stimmen, wird sie in den anderen fünf Departamentos im westlichen Hochland - in Cochabamba, Sucre, Oruro, La Paz und Potosi - abgelehnt. Dieses Ergebnis soll die Nationalversammlung berücksichtigen, wenn sie eine neue Verfassung entwirft, die ein Jahr später per Referendum vom Volk bestätigt oder abgelehnt werden soll. Als die Zeit vorbei ist, beschließt die Nationalversammlung, alles auf November 2007 zu verschieben. Bis dahin soll auch darüber debattiert werden, ob die historische Hauptstadt Sucre wieder effektive Hauptstadt werden kann. Der MAS lehnt das ab und beschwört damit eine Blockade des Verfassungsprozesses herauf, so dass die media luna (die abtrünnigen Regionen) Autonomie-Referenden verkündet. Selbst die bisher gegenüber der Morales-Regierung loyale Provinz Cochabamba schließt sich mit ihrem Gouverneur Manfred Reyes Villa nun den abtrünnigen Departamentos an, was eine institutionelle Krise auslöst und Morales die bis dato größte Niederlage beschert.

Während die Regierung zu Recht die Verfassungswidrigkeit der Referenden anprangert, reklamiert die media luna die Illegalität des vom MAS - in Abwesenheit der Opposition - im November 2007 beschlossenen Verfassungsentwurfs, der mit einfacher, nicht aber der nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet wurde.

So kommt eine Lawine ins Rollen, die Boliviens territoriale Integrität unter sich zu begraben droht. Weitere Kreuze für die Autonomie sind am 1. Juni in Pando und Beni und am 22. Juni 2008 in Tarija zu erwarten. Alles spricht für ein alles überlagerndes Ja.

Den Inka-Himmel erstürmen

"Die Existenz Boliviens ist in Gefahr", warnt der einstige Ölminister Andrés Soliz Rada, Protagonist der Erdgas-Verstaatlichung vom 1. Mai 2006, der vor kurzem zurücktrat, als eine Gruppe von radikalen Indigenisten, allen voran der aktuelle "weiße" Vizepräsident Alvaro García Linera, anfing, "einen verheerenden Einfluss auf Morales auszuüben" (Soliz).

Weder die Zentralisten um Morales noch die Autonomisten in den abtrünnigen Provinzen können Legalität beanspruchen. Also verschanzen sie sich hinter dem ideologischen Zement ihrer Forderungen. Während die Zentralisten drei Nationalflaggen, 36 Sprachen anerkennen, das Wort Republik abschaffen und die Nationalarmee in die Streitkräfte des multinationalen Staates verwandeln wollen, ähnelt die autonomistische Verfassung von Santa Cruz einem von den Ölgesellschaften finanzierten Sprengstoff, der Bolivien zerreißt. Sie ist nach dem Maß der Oligarchie verfasst, deren Ku-Klux-Klan-Mentalität bereits im 19. Jahrhundert zum Ausdruck brachte: "Der Indio ist düster, schmutzig, scheu, krank und gemein."

Der zitierte Ex-Ölminister Soliz Rada spricht denn auch von "dramatischen Momenten" und meint am 5. Mai in der argentinischen Zeitung Argenpress: "Machen wir uns den Satz vom General San Martín zu eigen: ›Wenn das Vaterland in Gefahr ist, ist alles erlaubt - nur eines nicht, es nicht zu verteidigen‹".

Dagegen steht ein kulturalistischer Indigenismus, der mit dem europäischen Erbe radikal bricht: "Der Indio sollte Marx und Christus aus seinem Hirn streichen, um frei zu sein", so der viel zitierte Fausto Reinaga in seinen Überlegungen über die Revolución India, die ein wichtiger Bezugspunkt von Vizepräsident Linera und radikalen "Indianisten" ist, die Evo Morales umzingelt haben.

Nicht die rechte Opposition ist gespalten, sondern die bolivianische Linke, deren radikalste Stimmen den Inka-Himmel erstürmen wollen, um der säkularen "Blutschande" einstiger europäischer Besatzer ein Ende zu setzen. Dennoch ist es richtig, wie García Linera in seinem Essay Marxismo e indigenismo (2007) schreibt: "In Bolivien ist der alte Marxismus weder politisch noch intellektuell bedeutend. Und der kritische Marxismus, der aus einer neuen Intellektuellen-Generation herkam, hat einen nur reduzierten Einfluss und immer noch begrenzte Produktivität. Das steht im Gegensatz zum Indianismus, der sich nach und nach als eine Erzählweise des Widerstandes konstituiert und zuletzt eine wahrhaftige Machtoption dargestellt hat."

Diese Machtoption trägt ebenso den Sprengstoff der Spaltung in sich. Sie ist genauso zwiespältig wie Evo Morales´ Programmatik, die jene verblüffen dürfte, die den Präsidenten und seine Bewegung zum Sozialismus in der Nähe eines "totalitären Sozialismus" schieben wollen. - "Diejenigen, die denken, dass die Morales-Regierung sozialistisch ist, haben sich geirrt. Davon gibt es keine Spur. Im Manifest von Orinoca kann man lesen: ›Es ist eine linke, indigene und nationale Volksbewegung. Eine Bewegung des Gewissens und nicht des Absahnens‹", schreibt der Morales-Biograf Muruchi Poma 2007.

Im Augenblick jedenfalls steht nicht der Sozialismus, wohl aber die Existenz der Republik auf dem Spiel. Ob sie die verheerenden Rassenkämpfe und separatistischen Bestrebungen überlebt oder auf eine föderale Neugründung zusteuert, die angesichts der Autonomie-Forderungen eine mögliche rationale Lösung sein könnte, ist ungewiss. Zu bedenken bleibt, dass ohne den sozioökonomischen und kulturellen Bezug auf die Andenregionen die Existenz einer media luna - einer zweiten bolivianischen Republik - kaum denkbar wäre. Der Kampf der ökonomisch und medial mächtigen Oligarchie, die vom Geist der Spaltung lebt, wird als radikalisierter Kampf zwischen Zentralisten und Autonomisten aufgefochten. Und das immer heftiger.

* Aus: Wochenzeitung "Freitag" 19, 9. Mai 2008


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