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"Nationaler Pakt"

Bolivien: Neugründung mit Abstrichen. Regierung und Opposition einigen sich auf Verfassungsreferendum im Januar. Wahlen im Dezember 2009

Von Benjamin Beutler *

Im Streit um die Verfassung zur »Neugründung Boliviens« haben die regierende »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) und die rechte Opposition nun doch überraschend zueinander gefunden. Im Morgengrauen des gestrigen Dienstags wurde nach einer Sondersitzung des Kongresses ein Gesetz mit erforderlicher Zweidrittelmehrheit angenommen, das die oberste Parlamentskammer des Landes zu Änderungen an der neuen Magna Charta befugt. Mit der Novelle wurden an über 100 Artikeln weitreichende Änderungen vorgenommen, was dem Wunsch der Opposition nach »Modifizierung« des im Dezember 2007 vom Verfassungskonvent verabschiedeten Gesetzestextes entgegenkommt.

Am Montag abend war zunächst ein »Nationaler Pakt« zwischen Regierung und Opposition geschlossen worden. Man einigte sich auf Abhaltung eines Verfassungsreferendums im Januar 2009. Im Dezember desselben Jahres werde es zu Neuwahlen für den Präsidenten, dessen Vize sowie des Kongresses kommen, erklärten MAS-Politiker Félix Rojas und sein Kollege Luis Vásquez Villamor von der wichtigsten Oppositionspartei Podemos in La Paz. Damit kamen sie der Forderung Zehntausender Indígenas, Bauern, Minenarbeitern und MAS-Anhängern nach, die zu diesem Zeitpunkt auf der »Plaza Murillo«, dem zentralen Platz des Regierungssitzes, lautstark auf sich aufmerksam machten. Zu Fuß waren sie teils über 200 Kilometer gelaufen, um ihrer Forderung nach einem Verfassungsreferendum Ausdruck zu verleihen (siehe jW, 21.10.).

Der Druck von unten scheint schnelle Wirkung gezeigt zu haben. Noch am Montag morgen waren die Verhandlungen zwischen MAS-Regierung und der Rechten geplatzt. Podemos forderte die Beschränkung der Präsidentenamtszeit auf eine Legislaturperiode, er solle sich »nicht ewig an die Macht klammern«. Doch brachte die Drohung der mächtigen »Nationalen Koordination für den Wandel« (CONALCAM), einem Bündnis regierungsfreundlicher sozialer Gruppen, man werde den Kongreß notfalls »einkesseln«, Bewegung in die stockenden Verhandlungen. Präsident Evo Morales verzichtete spontan auf eine in der neuen Verfassung geplante weitere Amtsperiode, könnte folglich nach erfolgreicher Wiederwahl 2009 höchstens bis 2014 regieren. Den letzten Widerstand brach der Vorschlag von Álvaro García Linera, dem Präsidenten des Kongresses, die entscheidende Sitzung unter freiem Himmel und in Anwesenheit des versammelten Volkes abzuhalten: Die Rechte fürchtete sich offensichtlich davor.

Doch wie hoch ist der Preis, den Morales für die Zustimmung der Rechten, das Volk 2009 an die Urnen zu lassen, zahlen mußte? Kritisch sind die Zugeständnisse zu bewerten, die die MAS bei den Änderungen des Verfassungstext machen mußte. So soll das Ergebnis eines »beratenden Referendums«, das zeitgleich zum Verfassungsreferendum über die Einführung einer Obergrenze von Landbesitz (5000 oder 10000 Hektar) entscheidet, nicht rückwirkend gelten. »Viele produzierende Unternehmen hatten die Sorge, das Ergebnis der beratenden Abstimmung würde sie in Mitleidenschaft ziehen. Ihre Besitzschaften aber werden nicht gefährdet «, so Vizepräsident Linera.

Die wirtschaftlich Mächtigen im abspaltungswilligen Osten lehnen die neue Verfassung trotzdem weiter total ab. Der Präsident der Privatunternehmer Santa Cruz, Pedro Yovío, äußerte sich, von den Parlamentariern der Opposition verraten worden zu sein. »Alles Schminke, der Inhalt bleibt ein Attentat auf die produzierenden Sektoren.«

* Aus: junge Welt, 22.10.2008

Diffizile Neugründung

Von Martin Ling **

Der Weg für eine neue Verfassung in Bolivien ist frei. Das ist ein Erfolg nach den monatelangen Auseinandersetzungen im Kongress und auf der Straße, die das Land an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht hatten. Nach der vollzogenen Verstaatlichung der Rohstoffe und der begonnenen Landreform ist mit der neuen Verfassung die dritte Säule der Neugründung in Sichtweite, denn wenig spricht dafür, dass die Bevölkerung beim Referendum im Januar dem Verfassungsprojekt eine Absage erteilt.

Doch die Rechte hat für ihr Zugeständnis zum Referendum nicht wenig ausgehandelt: Evo Morales, ohne den das bolivianische Projekt zum jetzigen Zeitpunkt schwer vorstellbar ist, wird nur noch eine Kandidatur gegönnt: Spätestens 2014 ist seine Amtszeit damit abgelaufen.

Auch die Großgrundbesitzer könnten mit der modifizierten Verfassung gut leben: Zwar wird die Bevölkerung entscheiden, ob die Obergrenze bei 5000 oder 10000 Hektar Landbesitz liegen soll -- doch rückwirkend soll die Begrenzung nicht wirksam sein. Kröten, die Morales wohl schlucken musste, um überhaupt einen Ausweg aus der Pattsituation zu finden.

Wenig spricht dafür, dass die alten Eliten den Prozess der Neugründung künftig nicht weiter hintertreiben werden. Hinzu kommt, dass die Weltrezession für die Umverteilungspolitik der Rohstofferlöse künftig weniger Spielraum lässt und damit zusätzlicher sozialer Sprengstoff entsteht. Die schwierigen Zeiten sind für Morales leider nicht vorbei.

** Aus: Neues Deutschland, 22.10.2008 (Kommentar)




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