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Boliviens Indigenas jubeln

Morales: "Man kann die Neoliberalen und ihre Anhänger besiegen"

Im Folgenden dokumentieren wir drei Artikel und einen Kommentar, die sich alle mit dem Wahlsieg von Evo Morales in Bolivien befassen.


"Wir sind Präsidenten"

Boliviens Indígenas jubeln: Gewerkschaftsführer Evo Morales gewinnt Wahlen haushoch. MAS-Chef kündigt Verstaatlichung der Erdgasreserven an

Von Timo Berger*

Mit einem unerwartet deutlichen Ergebnis hat am Sonntag [18.12.2005] Evo Morales die Präsidentschaftswahlen in Bolivien gewonnen. Nach offiziellen Zahlen der Wahlleitung erhielt der Kandidat der MAS (»Bewegung zum Sozialismus«) mit Auszählungsstand vom Montag 47 Prozent der Stimmen. Laut TV-Hochrechnungen bekam der Indio aus der Volksgruppe der Aymara sogar 50,9 Prozent, sein konservativer Gegenkandidat, Expräsident Jorge Quiroga, kam mit etwa 31 Prozent abgeschlagen auf Platz zwei. Wenn sich diese Zahlen bestätigen, wäre Morales damit laut Verfassung direkt gewählt. Im anderen Fall müßte er im Januar noch durch den Kongreß bestätigt werden. Quiroga erkannte den Wahlsieg von Morales bereits an und gratulierte dem 46jährigen Gewerkschaftsführer.

Morales versprach in einer ersten Rede nach der Abstimmung am Sonntag abend umfassende Reformen: »Die neue Zeit Boliviens bricht an, für Gleichheit in Frieden und für den Wechsel, den das bolivianische Volk erhofft.« In Cochabamba erklärte er vor Anhängern seiner Partei: »Wir haben gewonnen, Aymaras, Quechuas, Chiquitanos und Guaranies, zum ersten Mal sind wir Präsidenten.«

Tausende Menschen strömten am Sonntag abend auf die zentralen Plätze der größten Städte Boliviens, um den Wahlsieg von Morales zu feiern. 3,6 Millionen Bolivianer waren am Sonntag aufgerufen, in über 21000 Wahllokalen Präsident und Vizepräsident, Abgeordnete und Senatoren zu wählen. Zum ersten Mal wurden auch die Gouverneure der neun Landesteile (Departamentos) direkt vom Volk gewählt. Die MAS kam Prognosen zufolge auf 65 der 130 Sitze im Abgeordnetenhaus, sie errang außerdem 13 der 27 Sitze im Senat. Die Partei von Jorge Quiroga, Podemos (»Soziale und demokratische Kraft«), errang die Mehrheit im Senat und stellt künftig sechs Gouverneure. Die Wahlergebnisse spiegeln die regionale Spaltung des Landes: Morales erhielt am meisten Stimmen in ärmeren westlichen Provinzen (Oruro, Potosí, Chuquisaca, La Paz und Cochabamba), Quiroga gewann im rohstoffreichen Osten (Tarija, Beni, Pando y Santa Cruz).

In der Andenstadt Cochabamba bedankte sich Evo Morales am späten Sonntag abend bei den sozialen Bewegungen für ihren Kampf um die natürlichen Ressourcen. »Ab dem morgigen Tag«, versprach Morales«, würde eine »neue Ära der Geschichte in Bolivien beginnen«. »Wir wollen ein Bolivien für alle, nicht nur für die Indigenas«. Der Indioführer unterstrich seinen Wunsch, »zusammenzuleben in der Einheit der Vielfalt«. Außerdem rief er die sozialen Bewegungen und die Politiker Lateinamerikas dazu auf, das »große Vaterland« Simón Bolivars und das »Tawantinsuyu« der Inka in symbolischer Form wiederzuerrichten.

Als erste Regierungsmaßnahmen kündigte Morales die Verstaatlichung der Rohstoffquellen und die Einberufung einer Verfassungsversammlung an: »Wir wollen das neoliberale Wirtschaftsmodell ändern und den Kolonialstaat abschaffen.« Ein Verfassungskonvent soll eine Neugründung Boliviens vorbereiten.

* Aus: junge Welt, 20.12.2005


Ein Aymara an der Staatsspitze Boliviens

Jubel unter Morales-Anhängern in Cochabamba – erste Drohung aus den USA

Von Gerhard Dilger**


Erstmals in seiner Geschichte bekommt Bolivien einen Indígena als Staatsoberhaupt. Allen Hochrechnungen zufolge hat sich der Aymara-Indianer Evo Morales von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) sensationell deutlich gegen den rechten Expräsidenten Jorge »Tuto« Quiroga durchgesetzt. Bereits am Sonntagabend durfte der frühere Kokabauern-Gewerkschafter jubeln: »Compañeros und compañeras, wir haben schon gewonnen«, rief Evo Morales um 10 Uhr abends der jubelnden Menschenmenge zu, die den Platz vor der Wahlkampfzentrale in Cochabamba in ein blau-weiß-schwarzes Fahnenmeer verwandelt hatte. Millionen Bolivianer verfolgten die Rede direkt über das Fernsehen. Kurz zuvor hatte das von über 100 Medien gebildete Wahlprojekt »Usted elige« gemeldet, Morales habe die absolute Mehrheit erreicht: 50,9 Prozent, 19 Prozentpunkte mehr als Quiroga.

Mit dem amtlichen Endergebnis wird frühestens am heutigen Dienstag gerechnet. Doch selbst wenn Morales die absolute Mehrheit knapp verpassen sollte, dürfte die in diesem Falle notwendige Wahl durch das Parlament nur noch eine Formsache sein. Zwar scheint die MAS die Mehrheit im bolivianischen Kongress knapp verfehlt zu haben, doch der Drittplatzierte der Präsidentenwahl, Samuel Doria Medina (8,2 Prozent), ein liberaler Unternehmer, hat angekündigt, mit seiner Partei Nationale Einheit (UN) für Morales zu stimmen.

Der frühere Präsident Quiroga gratulierte Morales und sagte im Hinblick auf den Untergang zahlreicher Traditionsparteien, deren Vertreter reihenweise zu seinem Wahlbündnis »Podemos« oder zu Medinas UN übergelaufen waren, in Bolivien beginne ein »neuer Abschnitt« der Demokratie. Behauptet hat sich die Nationalrevolutionäre Bewegung MNR, deren Präsidentschaftskandidat Michiaki Nagatani etwa 6,7 Prozent verbuchte.

Die Wahl zeigte aber auch erneut die Zweiteilung Boliviens: Während sich Evo Morales in den fünf andinen Hochlandprovinzen durchsetzte, behielt Quiroga im so genannten »Halbmond« die Oberhand, der sich von der Amazonasprovinz Pando über Beni und die wohlhabende Agrar- und Ölregion Santa Cruz bis zur Erdgasprovinz Tarija im Südosten erstreckt. Bei den Parlamentswahlen zeichnen sich zwei annähernd gleich große Lager ab: die MAS und der Bürgerblock mit »Podemos«, UN und MNR.

»Es bricht eine neue Geschichte für Bolivien an, in der wir Gleichheit und Frieden mit sozialer Gerechtigkeit anstreben werden«, rief Morales auf der Siegesfeier in Cochabamba. Seinen Sieg habe er den Volksbewegungen und ihrem Kampf um die Kontrolle über die Rohstoffe zu verdanken, aber auch den Kokabauern in Chapare, wo er politisch groß wurde. Der »schmutzige Krieg« mancher Medien habe ihm sogar genutzt. »Das organisierte und einige Volk hat gezeigt, dass man die Neoliberalen und ihre Anhänger im nationalen Wahlrat besiegen kann«, sagte Morales im Hinblick auf einen Skandal, der in der allgemeinen Euphorie beinahe untergegangen wäre: Seit der Kommunalwahl vor einem Jahr strich die Wahlbehörde über eine Million Bolivianer aus dem Wahlregister – vor allem solche aus Gegenden mit klaren MAS-Mehrheiten. Viele Wähler im ganzen Land merkten dies erst an der Wahlurne.

»Zum Glück sind wir nicht allein, wir haben international viel Unterstützung«, rief Morales und wies die Ansicht hoher USA-Funktionäre zurück, wonach Bolivien ein »gescheiterter Staat« sei. Während die USA-Regierung vorerst keine offizielle Stellungnahme abgab, meldete sich Otto Reich zu Wort, George W. Bushs früherer Lateinamerika-Beauftragter. »Hoffentlich setzt Morales nicht das um, was er in seinem Wahlkampf gesagt hat«, orakelte Reich. Wenn sich Bolivien »feindselig gegenüber der internationalen Gemeinschaft« zeige, werde diese ihre »Wirtschaftshilfen« streichen. »Die Welt kann ohne Bolivien leben, aber Bolivien nicht ohne die Welt«, drohte der US-Amerikaner.

** Aus: Neues Deutschland, 20.12.2005


Hoffen auf Evo Morales

Von Harald Neuber***

Die Wahl des MAS-Präsidenten in Bolivien trifft auf positive Reaktion in Südamerika. Gewerkschaftsverband drängt auf rasche Verstaatlichungen des Erdgases

Hunderttausende Anhänger der Bewegung zum Sozialismus (MAS) feierten noch am Montag [19.12.05] in Bolivien den Sieg ihres Kandidaten Evo Morales bei der Präsidentschaftswahl tags zuvor. Während südamerikanische Staatschefs den Sozialisten beglückwünschten, tat man sich in Washington sichtlich schwer. Nach Angaben der bolivianischen Nachrichtenagentur Bolpress nahm zunächst lediglich eine Sprecherin der Abteilung »für Angelegenheiten der Westlichen Hemisphäre« (Lateinamerika) des US-Außenministeriums Stellung. »Wir beglückwünschen die Bolivianer zu dem friedlichen Ablauf der Wahlen. Auch wenn die Endergebnisse noch nicht bekanntgegeben wurden, beglückwünschen wir Evo Morales zu seinem offensichtlichen Sieg«, sagte sie. Washingtons Außenministerin Condoleezza Rice erklärte parallel: »Wird er demokratisch regieren? Sind sie bereit zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit? Dies wäre für das Wohl des bolivianischen Volkes notwendig, denn Bolivien kann sich nicht von der internationalen Gemeinschaft isolieren«.

Daran denkt in Bolivien auch niemand. Vielmehr will Evo Morales, der am 22. Januar die Regierungsgeschäfte übernehmen wird, eine Abkehr vom neoliberalen Freihandelsprojekt Washingtons vollziehen. Statt dessen strebt seine Regierung die Zusammenarbeit mit regionalen Bündnissen an. Der venezolanische Außenminister Alí Rodríguez bezeichnete den Sieg des Sozialisten daher als »Stärkung der demokratischen Prozesse« in der Region. Bolivien unter Evo Morales trage zur »Verteidigung der Souveränität« bei. Ähnlich äußerten sich Regierungsvertreter aus Argentinien, Brasilien und Uruguay. Diese Staaten befürworten als Mitglieder des regionalen Freihandelsbundes Mercosur Gespräche mit der neuen bolivianischen Regierung über eine Zusammenarbeit.

Doch vor dieser angestrebten Kooperation sind Hürden zu nehmen. Im Zentrum von Morales’ Wahlkampf stand das Versprechen, die 1996 privatisierten Erdgasreserven des Landes wieder zu verstaatlichen. Der größte Investor ist inzwischen aber das brasilianische Staatsunternehmen Petrobras, das 1999 für umgerechnet rund 100 Millionen US-Dollar zwei Raffinerien in Santa Cruz de la Sierra und Cochabamba gekauft hat. Nachdem Morales angekündigt hatte, auch diese Raffinerien wieder in Staatseigentum überführen zu wollen, kündigte der Leiter der internationalen Abteilung von Petrobras, Nestor Cerveró, am Montag an, geplante Projekte bis auf weiteres ruhen zu lassen. Der Exekutivsekretär des Bolivianischen Gewerkschaftsverbandes COB, Jaime Solares, stellte der designierten Regierung indes ein Ultimatum von 180 Tagen, um die Rückverstaatlichung des Erdgases abzuschließen. »Sie sollen nicht sagen, daß sie ein oder zwei Jahre dafür brauchen«, drohte Solares. Die erste Regierungshandlung müsse die entschädigungslose Verstaatlichung sein. »Dafür braucht man nicht Washington zu fragen, oder den Präsidenten von Brasilien«, wird Solares vom venezolanischen Internetportal aporrea.org zitiert. Morales müsse nur die Verfassung Boliviens anwenden. Die COB war führend an den sozialen Protesten der vergangenen Jahre beteiligt und hat sowohl zum Sturz von Gonzalo Sánchez de Lozada im Oktober 2003 als auch zum Rücktritt des Übergangspräsidenten Carlos Mesa vor wenigen Monaten beigetragen.

*** Aus: junge Welt, 21.12.2005


Chance für den Wechsel

Von Harald Neuber****

Evo Morales hat viele Gesichter. Im Wahlkampf ist der 46jährige Präsident der Bewegung zum Sozialismus (MAS) vor allem als Vertreter der indigenen Bevölkerung aufgetreten. Die Ureinwohner machen rund 80 Prozent der Bevölkerung des Andenstaates aus – und waren bislang weitgehend vom demokratischen Prozeß ausgeschlossen. Evo Morales ist aber auch Sozialist. In dieser Rolle könnte er den Ideen des peruanischen Kommunisten José Carlos Mariátegui folgen und die indigene Bevölkerung zum Protagonisten eines linken Entwicklungsprojektes machen. Als primär indigener Politiker steht es ihm aber frei, auch den kapitalistischen Weg zu wählen. Trotz der berechtigten Euphorie über den Sieg der Linken in Bolivien ist es notwendig, die Entwicklung in Peru und Ecuador in Erinnerung zu rufen. Auch dort gewannen mit Alejandro Toledo und Lucio Gutiérrez indigene Politiker die Wahlen. Links oder gar dezidiert sozialistisch war und ist ihre Politik nicht.

Die Frage nach der grundsätzlichen Ausrichtung der Regierung Morales als vorrangig indigenes oder sozialistisches Projekt muß nun im Vordergrund stehen. Denn in der Tat hat das linke Profil der MAS unter Evo Morales stark gelitten. Anstatt eine konsequente Politik gegen die korrupte und gescheiterte Oligarchie zu entwickeln, hat die MAS gerade unter der Regierung von Carlos Mesa als zuverlässiger Partner der Rechten im Parlament funktioniert. Im Interview hatte der linke US-Soziologe James Petras diese »Politik der Kompromisse« schon im Juni dieses Jahres scharf angegriffen. Damals hatte die MAS eine entscheidende Rolle dabei gespielt, soziale Proteste in den Städten La Paz und El Alto abzuwürgen. Statt die Organisierung der revolutionären Basis zu fördern, wie dies unter der bolivarischen Regierung in Venezuela geschieht, positionierte sich Morales gegen die radikalen Gewerkschaften und verhandelte mit der Rechten im Parlament. Der MAS-Vizepräsident Alvaro García Linera propagiert derweil einen »andinen Kapitalismus«. Dessen Ziel sei es, die zersplitterten Produktivkräfte zu fördern, bevor der nächste Schritt getan werden könnte. Mit einer solchen Strategie verkommt der Sozialismus zum Fernziel.

Der Sieg von Evo Morales wird nur Bestand haben, wenn er sich über die konsequente Stärkung des außerparlamentarischen Widerstandes langfristig eine Basis schafft. Anstatt weiterhin parlamentarische Bündnisse mit der Rechten zu suchen, müßte die MAS nun in Gespräche mit den Gewerkschaften treten und ihren Organisierungsprozeß fördern. Denn außer Zweifel steht, daß sich der Druck auf die Regierung erhöhen wird – aus den USA wie aus dem eigenen Land. Und dieser Streit wird nicht im Parlament entscheiden werden, sondern auf den Straßen.

**** Aus: junge Welt, 20.12.2005


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