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Hoffnung und Kritik

Bolivien: Mit Evo Morales könnte bei Wahlen am Sonntag nicht nur ein Linker, sondern erstmals ein Vertreter der Indigenas ins Präsidentenamt gelangen

Timo Berger*

Erstmals in der bolivianischen Geschichte könnte am Sonntag ein Vertreter der indigenen Bevölkerungsmehrheit als Sieger aus einer Präsidentenwahl hervorgehen. In den letzten Umfragen vor der Wahl liegt der Führer der MAS (»Bewegung zum Sozialismus«), Evo Morales, mit fünf Prozent Abstand vor seinem schärfstem Konkurrenten, dem ehemaligen Präsidenten Jorge »Tuto« Quiroga von PODEMOS (»Soziale und demokratische Kraft«). Doch keiner der beiden Kandidaten wird die absoluten Mehrheit erreichen: Für den gemäßigten Linken Morales wollen 34,2 Prozent der Wähler stimmen, für den erzkonservativen Quiroga 29,2.

Hohe Erwartungen

Da die bolivianische Verfassung keine Stichwahl vorsieht, wählt das Parlament einen der beiden bestplatzierten Kandidaten im Januar zum Präsidenten. Es wird deshalb auf die Stimmen des Drittplatzierten, des Multimillionärs Samuel Doria Medina von der UE (»Nationale Einheit«), ankommen. Der Unternehmer, der im Wahlkampf moderatere Töne als Quiroga angeschlagen hatte, kündigte am Wochenende gegenüber der Presse an, er werde seine Stimmen dem Wahlsieger geben. Allerdings nur, wenn der Abstand zum Zweitplatzierten mehr als fünf Prozent betrage.

Die vorgezogenen Neuwahlen sind ein Ergebnis der Krise im Mai und Juni diesen Jahres, als eine breite Front aus sozialen Bewegungen den damaligen Präsidenten Carlos Mesa mit Straßenblockaden und Demonstrationen aus dem Amt fegte. Der Richter des Obersten Gerichts Eduardo Rodríguez übernahm die Staatsführung als Übergangspräsident und setzte den Wahltermin schließlich für den 18. Dezember fest. Am Sonntag werden gleichzeitig 27 Senatoren und 130 Abgeordnete und erstmals auch die Gou-verneure der neun Landesteile (Departamentos) direkt vom Volk gewählt. Wahlberechtigt sind 3,6 Millionen Bolivianer.

Doch die Hoffnungen, die derzeit in Bolivien in den sich abzeichnenden Wahlsieg von Evo Morales und seiner Bewegung zum Sozialismus gesetzt werden, sind kleiner geworden. Kritik an seiner Person und seinem Wahlprogramm hagelte es von rechts und links. Das konservative Lager befürchtet in offizielen Verlautbarungen, mit einem Präsidenten Morales würde Boliviens international isoliert. Inoffiziell wird damit die Tatsache kaschiert, daß sich die weiße Minderheit immer noch nicht vorstellen kann, von einem Indio regiert zu werden – obwohl diese zwischen 60 und 65 Prozent der Bevölkerung stellen.

Die radikaleren der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, unter anderem der Gewerkschaftsdachverband COB und die Nachbarschaftsräte von El Alto, werfen Morales dagegen vor, er habe gewaltige Abstriche an der ursprünglich gemeinsamen Forderung nach der Verstaatlichung der Erdgasreserven gemacht. Im Wahlkampf hat Morales den Öl-Multis großzügige Kompensationen versprochen für den Fall, daß ihre Verträge aufgehoben und zu neuen Bedingungen wieder abgeschlossen werden.

Streit um Verstaatlichung

Paradoxerweise stimmten Morales und die MAS im Mai diesen Jahres noch gegen das neue Treibstoffgesetz, das nun bei der Neuverhandlung der Verträge angewandt werden soll. Damals sagte Morales, das Gesetz verstoße gegen nationale Interessen und begünstige die Mineralölkonzerne. Am Wochenende hatte der Erste Nationale Gipfel der Arbeiter in El Alto der künftigen Regierung 90 Tage Waffenruhe eingeräumt. Wenn bis dahin aber ihre Forderung nach Verstaatlichung der Ölvorkommen nicht erfüllt ist, wollen sie wieder die Straßen blockieren. Aber auch die regionalen Gegensätze werden einen künftigen Präsidenten Morales stark unter Druck setzen: Die reichen Departamentos im Osten des Landes drohten Anfang diesen Jahres offen mit Abspaltung. Erst das Zugeständnis größerer regionaler Autonomie konnte die nach Unabhängigkeit strebenden Kreise ruhigstellen – vorerst.

* Aus: junge Welt, 16. Dezember 2005


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