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Die Doppelmoral der USA

Bolivien fordert Auslieferung seines Expräsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada

Von Volker Hermsdorf *

Bolivien hat die USA erneut zur Auslieferung seines Expräsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada aufgefordert. Wie der Abgeordnete des »Movimiento al Socialismo«, Roberto Rojas, am Wochenende ankündigte, wird Generalstaatsanwalt Ramiro Guerrero Ende September in die Vereinigten Staaten reisen, um eine dortige Anwaltskanzlei mit der Einleitung des neuen Auslieferungsverfahrens zu beauftragen. Sánchez de Lozada, dem die Verantwortung für ein Massaker vorgeworfen wird, bei dem im Oktober 2003 mindestens 67 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt wurden, lebt nach seiner Flucht aus Bolivien unbehelligt in den USA.

Frühere Anträge – der erste stammt aus dem Jahr 2008 – hatte ein US-Gericht im September vergangenen Jahres abgelehnt. Die US-Regierung stellt darüber hinaus auch zwei ebenfalls vor der bolivianischen Justiz geflohene Mittäter, den Exverteidigungsminister Carlos Sánchez Berzaín und den ehemaligen Minister für Erdöl und Erdgas, Jorge Berindoague. Der Anwalt Rogelio Mayta, ein Vertreter der Massaker-Opfer des »Schwarzen Oktober 2003«, nannte die Entscheidung »nicht überraschend«. Sie sei ein weiteres »Beispiel für die doppelte Moral der US-Regierung«. Daran habe sich auch unter Obama nichts geändert. Boliviens Präsident Evo Morales hatte allerdings empört auf Washingtons Weigerung reagiert. Die USA seien nicht nur ein »Zufluchtsort für Kriminelle«, sondern böten diesen auch ein »Paradies der Straflosigkeit«, entrüstete sich Morales. Der Fall erregte auch außerhalb Lateinamerikas die Gemüter. »Nach der Logik Obamas müßte Bolivien jetzt Drohnen in Marsch setzen, um den in Florida frei herumspazierenden Massenmörder zu erledigen«, kommentierte ein Leser im britischen Guardian bissig.

Der noch immer als reichster Mann des Anden-Staates geltende Multimillionär Sánchez de Lozada war von 1993 bis 1997 erstmals Präsident und im August 2002 mit nur 22,4 Prozent der Stimmen erneut ins Amt gelangt. In seiner Amtszeit vertrat der in den USA aufgewachsene neoliberale Politiker vor allem die Interessen ausländischer Multis. Nachdem er im Februar 2003 mit US-amerikanischen Ölkonzernen den Export von bolivianischem Flüssiggas nach Kalifornien weit unter dem Weltmarktpreis vereinbart hatte, wehrte sich die Bevölkerung mit Massenprotesten. Als die Bewohner der Stadt El Alto im Oktober 2003 Straßenblockaden errichteten, ließ Sánchez de Lozada Polizei und Militär auf die Menschen schießen. Kurz darauf wurde er zum Rücktritt gezwungen und floh in die USA, wo der enge Verbündete der Bush-Administration Asyl erhielt.

Jetzt unternimmt die Regierung in La Paz einen zweiten Versuch, die flüchtigen Delinquenten für ihre Vergehen zur Rechenschaft zu ziehen. Der oberste Staatsanwalt des Landes, Orlando Riveros, erklärte Ende letzter Woche, daß der neue Auslieferungsantrag durch Anzahl und Schwere der zur Last gelegten Delikte umfangreicher sei als die vorigen. Das Wirtschafts- und Finanzministerium habe für das Verfahren rund 143000 US-Dollar zur Verfügung gestellt, berichtete Generalstaatsanwalt Guerrero. Er versprach den Anwohnern der Stadt El Alto am 17. Oktober, dem zehnten Jahrestag der Flucht des Expräsidenten, einen Bericht über den Fortschritt des neuen Auslieferungsverfahrens.

Die Hinterbliebenen der Opfer haben zwar Hoffnung, aber offenbar nur wenig Vertrauen, daß die USA die Täter tatsächlich ausliefern werden. Als Alternative zu dem offiziellen Verfahren der bolivianischen Regierung haben sie über US-amerikanische Anwälte bei einem Bundesgericht in Florida Privatklagen auf Entschädigung gegen den ehemaligen Präsidenten und seine Minister eingereicht. »Die Vereinigten Staaten dürfen nicht länger ein sicherer Zufluchtsort für die Verantwortlichen gewalttätiger Angriffe auf unbewaffnete Zivilisten sein«, führte Beth Stephens vom »Zentrum für Verfassungsrechte« aus, der die Opfer des »Schwarzen Oktober« vor dem Gericht in Florida vertritt.

* Aus: junge welt, Dienstag, 17. September 2013


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