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"Wir haben einen verfaulten Staat übernommen"

Boliviens Regierung der Bewegung zum Sozialismus (MAS) will den Korruptionssumpf trockenlegen. Ein Gespräch mit Nardi Suxo Iturry

Nardi Suxo Iturry ist in Bolivien Ministerin für Transparenz und Korruptionsbekämpfung.



Boliviens Regierung hat der Korruption den Kampf angesagt. Wie konnte sie sich derart »entfalten«?

Wir haben es mit einem Erbe aus Kolonialzeiten zu tun. Es waren die europäischen Besetzer, die das Eigentum unserer Vorfahren der Quechua und Aymara einfach an sich gerissen haben. Die Mentalität, sich etwas Fremdes ohne Arbeit anzueignen, wurde von vielen Einheimischen übernommen. Gegen dieses Laster müssen wir kämpfen, damit haben wir mit unserem Präsidenten Evo Morales begonnen.

Erstmals ist der Kampf gegen die Korruption in der Verfassung verankert. Anfang des Jahres ist sogar ein eigenes Ministerium gegründet worden, dem Sie vorstehen ...

Richtig, die Regierung ist zum Frontalangriff übergegangen. Jetzt wird gegen viele Personen ermittelt, veruntreutes Staatseigentum konnte sichergestellt werden. In der Bevölkerung wollen wir Bewußtsein dafür schaffen, daß Anzeigen wegen Korruption im Gegensatz zu früher tatsächlich nachgegangen wird. Die Korruptionsopfer sollen sofort Ergebnisse sehen.

MAS-Mitbegründer Santos Ramírez wurde Anfang des Jahres des Millionen-Dollar-Betruges in der verstaatlichen Energiebehörde YPFB überführt, dessen Chef er bis dahin war. Jetzt sitzen er und seine Komplizen im Gefängnis. Hat man die Korruption in den eigenen Reihen unterschätzt?

Als Präsident Morales vom Ramírez-Fall erfuhr, war er tief enttäuscht. Meinem Ministerium hat er am gleichen Tag die Order erteilt, den Fall aufzuklären, so daß Ramírez die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekam. Wenn man eines nicht in Frage stellen kann, dann ist es die Ehrlichkeit des Präsidenten, der streng nach dem Aymara-Kodex »Lüge nicht, stiehl nicht, sei nicht faul« handelt.

Zweifelsohne gibt es noch viel Korruption, in Zoll, staatlicher Krankenkasse, Polizei, Straßenverkehrsbehörde. Unsere Regierung aber deckt den Betrug nicht – er wird nicht verschwiegen, sondern bekämpft. Die meisten Anzeigen werden bemerkenswerter Weise gegen Korruption im Justizsystem eingereicht. Von den Vorgängerregierungen haben wir einen verfaulten Staat übernommen, die neue gesellschaftliche Kontrolle soll diesen Zustand Schritt für Schritt ändern.

Stößt diese Politik nicht auf Widerstand?

Sicher. Vor allem die oppositionellen Tiefland-Präfekten der sogenannten Halbmond-Departamentos Santa Cruz, Beni und Tarija wehren sich gegen den Verlust alter Privilegien. Natürlich sind sie gegen den von der MAS vertretenen Wandel. Unsere Strafverfolgung demaskiert diese Politiker, die nicht zum Wohle der Bevölkerung handeln.

So hat die Präfektur in Beni Staatsgelder für öffentliche Projekte wie Krankenhäuser und Sportanlagen ausgegeben, die dann niemals gebaut wurden. Gelder für dringend benötigte Stromgeneratoren, die für entlegene Indigenen-Gemeinschaften bestimmt waren, wurden veruntreut. Da wurden Billigmotoren aus China mit Farbe kaschiert und als teure US-Produkte ausgegeben, um sich dann die Differenz einzustecken. Die Menschen haben noch immer keinen Strom, dem Departamento wurde ein enormer Schaden zugefügt. In Santa Cruz sind Gelder geflossen und abgerechnet worden für den Bau einer Brücke, die bis heute nicht existiert. Ähnliches ist auch dem Präfekten von Tarija zuzuschreiben.

Welche Rolle spielt die Justiz?

Sie erschwert die Aufklärung, weil sie parteiisch ist. Erst vor kurzem sind die wegen Korruption angeklagten Präfekten Arm in Arm mit den Richtern des Obersten Nationalen Gerichtshofs auf einer Demonstration gegen die Regierung aufgetreten. Wie sollen diese Richter unabhängige Prozesse führen? Alle Beweise liegen vor, allein es fehlen transparente und faire Gerichtsverfahren. So können die korrupten Oppositionspolitiker einfach behaupten, eingeleitete Verfahren gegen sie seien einzig und allein politische Attacken der Regierung. Im Senat blockiert die Opposition bis heute die Annahme des Antikorruptionsgesetzes »Marcelo Quiroga Santa Cruz«. Die Senatoren fürchten, daß sie auf Grundlage der neuen Norm ihre Vermögen aus alten Zeiten offenlegen müssen und in Erklärungsnot für ihren Reichtum geraten, von dem wir alle wissen, woher er kommt: aus der Korruption.

Interview: Benjamin Beutler

* Aus: junge Welt, 8. Mai 2009


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