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"Ja zu Koka, nein zum Kokain"

Boliviens Botschafter Walter Prudencio über die unbekannten Facetten der heiligen Pflanze

Die Kokapflanze steht in Europa in erster Linie für Kokain. Dass die grünen Blätter aber als Nahrungsmittel und zur Herstellung von Medizin geeignet sind, ist kaum bekannt, so der bolivianische Botschafter in Deutschland Walter Prudencio Magne Veliz im Gespräch mit Knut Henkel. Der 46-Jährige schrieb eine Forschungsarbeit über die kulturelle Bedeutung von Koka und kämpft gegen dessen systematische Kriminalisierung.



ND: In Europa und den USA wird die Kokapflanze ausschließlich mit der Produktion von Kokain in Zusammenhang gebracht. Hat sie auch andere Facetten?

Walter Prudencio Magne Veliz: Oh ja, sehr viele. In den Dörfern der Aymaras im Hochland Boliviens zum Beispiel sind die Kokablätter ein wichtiger Teil der Kultur. So werden die Blätter von den Schamanen, den Yatires, zu Rate gezogen, wenn ein Mann eine Frau sucht. Sie sind dort Bestandteil aller Zeremonien.
Kokablätter gehören zum Alltag und sind Teil der Nahrung, denn sie enthalten viele Proteine, wichtige Vitamine und Mineralien. Es gibt eine Untersuchung der Universität Harvard, die das belegt. So ist der Eisengehalt der Kokablätter deutlich höher als der von Spinat.

Also hat die Kokapflanze ein erhebliches Potenzial für die Ernährung?

Das ist unstrittig. Wir benötigen aber mehr wissenschaftliche Forschung, um die positiven Facetten der Pflanze glaubwürdig darstellen zu können. Dazu gehört auch der medizinisch-therapeutische Nutzen der Pflanze. Wir haben erste Forschungsprogramme initiiert und laden internationale Forschungsinstitute ein, sich mit der Pflanze auseinanderzusetzen. Wir sind offen für Kooperationen und hoffen, dass mit neuen Studien ein Gegengewicht zur Kriminalisierungsstrategie geschaffen werden kann.

Welchen Stellenwert hat die Verarbeitung der Kokablätter für medizinische und hygienische Zwecke in Bolivien?

Es gibt dort einige Unternehmen, die pharmazeutische Produkte auf Kokabasis herstellen. So gibt es Präparate gegen rheumatische Erkrankungen, gegen Muskelverletzungen und Prellungen. Es gibt jedoch auch Betriebe, die Zahnpaste, Shampoo oder Seife aus Kokablättern herstellen. Und man kann Kekse, Kuchen, Bonbons, Süßspeisen, Wein und Likör aus den grünen Kokablättern kaufen. Das Angebot an Produkten ist ausgesprochen breit - Kokatee, der sogenannte Mate de Koka ist wohl das Bekannteste.

Der Kokatee hilft gegen die Höhenkrankheit und wird angeblich selbst von US-amerikanischen Drogenbeamten getrunken.

Das stimmt. Auf 3600 Meter über dem Meer braucht man einfach diese Blätter. Sie erleichtern einem das Leben in dieser Höhe. Es gibt vielfältige Formen, um Koka zu nutzen und die meisten gehen dabei auf die indigene Kultur zurück.

Gibt es Kooperationen mit den Nachbarn Peru und Kolumbien?

Ja, denn auch dort gibt es eine ganze Reihe von Produkten auf Kokabasis. Jedes Land mit einer Kokatradition hat etwas entwickelt, hat Produkte vorzuweisen und deshalb müssen wir unsere Kenntnisse austauschen und systematisieren, analysieren und dokumentieren. Das ist im Sinne der Menschheit.
Im Gegensatz zu der Produktion von Kokain, mit dem viel Geld verdient wird. Wir müssen uns zusammentun, um da ein Gegengewicht zu setzten, denn die Kokainlobby ist finanzstark und einflussreich. Das beginnt doch schon mit der Kontrolle der chemischen Zusätze wie Schwefelsäure oder Kaliumpermanganat. Die stammen meist aus den Industrieländern und deren Umschlag wurde dort lange Jahre kaum kontrolliert. Unser vordringliches Ziel ist es, auf die positiven Seiten der Kokapflanze hinzuweisen, und unser Slogan lautet »Ja zu Koka, nein zum Kokain«.

Welche Rolle spielt die Wiener UN-Konferenz im nächsten Jahr, wo die Kokapflanze auf der Tagesordnung stehen wird?

Die Konferenz könnte maßgeblich werden, denn es besteht die Möglichkeit, dass Koka von der UN-Liste der Suchtstoffe gestrichen wird. Dann wären, so hoffen wir, Medikamente und Genussmittel auf Kokabasis frei handelbar - nicht aber das Kokain. Das ist unser erklärtes Ziel. Und unsere Argumentation geht in die Richtung, dass die Kriminalisierung dieser Pflanze allein politische Gründe hat und einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält. Deshalb ist es für uns so wichtig, neue wissenschaftliche Studien zu erstellen.

Gibt es Pläne, die Produktion von alternativen Kokaprodukten zu fördern?

Es gibt Optionen wie den Export von Kokatee nach Indien, China oder in andere Tee trinkende Länder. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg

Wo sehen Sie Ansatzpunkte für die Nutzung von Kokaprodukten in den Industrieländern?

Ein sichtbares Problem ist das Übergewicht. Und der Verzehr von Koka dämpft nachweislich das Hungergefühl. Wir brauchen einen ernsthaften Dialog auf sozialer, akademischer, aber auch politischer Ebene. Auf der politischen Ebene gibt es die größten Widerstände.

Welche Strategie verfolgt die Regierung in La Paz derzeit?

Wir wollen den Dialog auf internationaler Ebene intensivieren, um die Kriminalisierung der heiligen Pflanze - einem zentralen Bestandteil unserer Kultur - zu beenden.

Welchen Bezug haben Sie selbst zu dieser Pflanze?

Ich bin mit Koka aufgewachsen und bei uns ist es Sitte, einen Gast zu einigen Kokablättern einzuladen - wie hier zum Kaffee.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Oktober 2007


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