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Morales-Gegner machen mobil

Konfrontation in der Verfassunggebenden Versammlung und auf den Straßen Ostboliviens

Von Benjamin Beutler *

Boliviens Präsident Evo Morales und seine regierende Bewegung zum Sozialismus (MAS) sehen sich ihrer ersten ernsthaften politischen Krise ausgesetzt. Streiks und Demonstrationen legten am vergangenen Freitag die Hälfte des Landes lahm.

Nur einen Monat nach Eröffnung der in Sucre tagenden Verfassunggebenden Versammlung scheint die legislative »Neugründung Boliviens« zum Stillstand gekommen zu sein. Die Wahlmänner der MAS und die Vertreter der im vergangenen Dezember abgewählten alten Machtelite streiten über die zur Verabschiedung einzelner Verfassungsartikel erforderliche Stimmenzahl. Während die MASVertreter die einfache Mehrheit von 50 Prozent plus einer Stimme für ausreichend halten, bestehen ihre konservativen Gegner darauf, dass im »Gesetz zur Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung« angeblich eindeutig die Zweidrittelmehrheit verlangt werde. Eine solche Mehrheit hatte die MAS – entgegen den Erwartungen – bei den Wahlen zur Versammlung am 2. Juli verfehlt, als sie 137 der 255 Sitze errang. Die Anhänger des Präsidenten interpretieren den Gesetzestext so, dass die Zweidrittelmehrheit nur bei der Abstimmung über den ganzen Verfassungstext Ende 2007 obligatorisch ist.

Der Streit dient der Opposition nun jedenfalls dazu, Boliviens ersten indigenen Präsidenten als bonapartistischen Diktator zu brandmarken, der die Regeln der Demokratie missachte, indem er Minderheiten übergehe. Unter dem Deckmantel der Forderung nach mehr politischer Teilhabe treiben die wirtschaftlichen Eliten eine gefährliche Spaltung des multiethnischen Staates Bolivien voran. Germán Antelo, Vorsitzender des mächtigen Komitees »Pro Santa Cruz«, einer Vereinigung von Geschäftsleuten und Latifundisten der gleichnamigen wirtschaftsstarken Provinz, spricht vom Verfassungsprozess als einem »autoritären und totalitären Projekt« der Regierung. In Santa Cruz und den Provinzen Tarija, Beni und Pando, denen allesamt oppositionelle Präfekten vorstehen, wurde daher am vergangenen Freitag ein »Tag des Widerstands« ausgerufen, der nicht nur einen wirtschaftlichen Schaden von etwa 15 Millionen US-Dollar verursachte, sondern auch zahlreiche gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Anhängern beider Lager provozierte. Offizielle Forderung war die nach der Zweidrittelmehrheit. Unterstützt durch die privaten Massenmedien, forderten die Organisatoren des Protests überdies mehr regionale Selbstbestimmungsrechte.

Tatsächlich strebt die Opposition zwei Ziele an: Sie will den Verfassungsprozess, der nach dem Willen Morales' einen tief greifenden sozialökonomischen Wandel der bolivianischen Gesellschaft fördern soll, delegitimieren. Zugleich geht es ihr um die Bewahrung der bisherigen Machtstrukturen und die Kontrolle der bolivianischen Erdgasvorkommen.

Der teils durch Repressalien gegen Streikunwillige durchgesetzte Ausstand wurde im einflussreichen Fernsehsender Telepaís unter dem Motto »Halb Bolivien gewinnt gegen Evo« gefeiert. Es sei nun an Morales, seine Politik zu überdenken. Für eine weitere Zuspitzung der Auseinandersetzungen sei allein der Präsident verantwortlich, verkündete Germán Antelo.

Der Präfekt von Santa Cruz, Rubén Costas, rechtfertigte bereits einen Sonderweg des reicheren bolivianischen Ostens: »Es gibt zwei Länder: das produktive Bolivien des Wachstums und der Demokratie, den Osten. Und das andine Bolivien: ausgrenzend, totalitär und radikal.« Die arme idigene Mehrheit, deren Lage Morales verbessern will, lebt vor allem im westlichen Hochland.

Eine argentinische Zeitung berichtete jüngst über ein Treffen von oppositionellen Politikern, Vertretern internationaler Energiekonzerne und USA-Diplomaten in Buenos Aires. Dabei seien weitere Schritte gegen die demokratisch gewählte Regierung in La Paz kooordiniert worden. In diesem Augenblick der Krise wird sich zeigen, welchen Kurs Morales im Umgang mit der noch nicht geschlagenen Opposition einschlägt. Auch innerhalb der MAS gibt es verschiedene ideologische Strömungen – von reformistisch bis revolutionär. Haben die gemäßigten Stimmen bisher dominiert, so könnte eine Verschärfung der Lage radikalere Kräfte stärken. Doch noch scheint eine Lösung am Verhandlungstisch möglich, wenn in dieser Woche der Verfassungskonvent wieder tagt.

* Aus: Neues Deutschland, 12. September 2006


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