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Mit Erdgas für die "Rente der Würde"

Boliviens aristokratische Opposition setzt dagegen auf totale Konfrontation

Von Benjamin Beutler *

In Bolivien spitzt sich der Streit um Erdgaseinnahmen zu. Soziale Bewegungen fordern wirtschaftliche Mitbestimmung.

Zwei Wochen nach der Bestätigung im Amt von Präsident Evo Morales (67 Prozent) setzt die regionale Opposition des Landes weiter auf totale Konfrontation. Die regierungsfeindlichen Gebietspräfekten, die sich in einer Art Konkurrenzregierung im »Nationalen Demokratischen Rat« (CONALDE) zusammengeschlossen haben, fordern von der Zentralregierung die volle Auszahlung der »Direkten Steuer auf fossile Brennstoffe« (IDH) und drohen mit einer Besetzung sämtlicher Förderanlagen bzw. Pipelines.

Um dies zu verhindern versetzte die Regierung der Bewegung zum Sozialismus« (MAS) am Sonntag Hunderte Soldaten in die erdgasreichen Gebiete von Santa Cruz, Tarija und Chuqiusaca, um die für Bolivien wirtschaftlich wichtigen Gaslieferungen nach Argentinien und Brasilien sicher zu stellen. Mit IDH-Geldern finanziert der MAS Teile der »Rente der Würde« (28 US-Dollar/Monat) für rund 450 000 Rentner über 60 Jahre. Die Opposition sieht sich dieser Gelder »beraubt« und will die Rückzahlung von 270 Millionen US-Dollar.

Doch ginge es der Rechten um etwas gänzlich anderes, betont Präsident Evo Morales: »Unter dem Vorwand der IDH hat sie vor dem Referendum vom 10. August einen Hungerstreik begonnen, wovon wir wissen, dass in Wirklichkeit gar nicht gehungert wurde: gescheitert. In einigen Regionen hat sie zum Generalstreik aufgerufen: gescheitert. Und schließlich ihr Aufruf zur Blockade aller Straßen: gescheitert«. Derweil bezeichnete der Vizepräsident des konservativen »Bürgerkomitees Pro Santa Cruz« Roberto Gutiérrez die MAS-Regierung als »totalitär und rassistisch«, man befände sich auf »Kriegsfuß«. Die CONALDE-Präfekten bat er um eine Ausweisung von Funktionären des »Nationalen Instituts für die Agrarreform«, die im Tiefland in Abstimmung mit in der Mehrzahl von MAS-Bürgermeistern geführten Kommunen die Umverteilung von Land und Boden vorantreiben. Weitere Referenden lehnten sie ab.

Die erbitterten Reaktionen erklären sich aus dem Ausgang des Referendums, bei dem der MAS und seine »demokratisch-kulturelle Revolution« eine Zweidrittelmehrheit hinter sich versammeln konnten. Vize-Präsident Álvaro García Linera: »Auch wenn es schwer ist, ein parteipolitisches Projekt in ein nationales Projekt zu verwandeln: Der MAS hat eindeutig die historisch-nationale Führungsrolle übernommen«.

Am Wochenende (23./24. August) trafen in Cochabamba die wichtigsten Organisationen sozialer Bewegungen mit MAS-Regierungsvertretern zusammen und gründeten die »Nationale Koordination für den Wandel«. Dieser »soziale, regierungsfreundliche Organismus« verabschiedete in einer Abschlusserklärung einen Aktionsplan: Erlass eines Präsidialdekretes für die Abhaltung eines Referendums für die neue Magna Charta, gerechtere Umverteilung der Staatseinnahmen, darunter die IDH-Steuer und eine permanente Mobilisierung. Sacha Llorenti, Minister für soziale Bewegungen und Zivilgesellschaft: »Heutzutage ist die Beteiligung in der Demokratie nicht mehr nur politisch in dem Sinne, dass wir unsere Vertreter wählen oder abberufen. Wir bestimmen auch über die wirtschaftliche Verteilung mit«. Viele im Land müssen sich daran erst gewöhnen.

* Aus: Neues Deutschland, 26. August 2008


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