Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Musterland Bolivien

Wachstum, solide Staatsfinanzen, beispielhafte Sozialprogramme: Regierung Morales beeindruckt mit Wirtschaftserfolgen selbst den IWF

Von Benjamin Beutler *

Applaus von unerwarteter Seite bekommt derzeit Boliviens Linksregierung. Überraschend deutlich lobte der für sein marktradikales Weltbild bekannte Internationale Währungsfonds (IWF) die »Bewegung zum Sozialismus« (MAS). Mit einer »angemessenen« und »vorsichtigen« Wirtschaftspolitik habe die Morales-Administration der weltweiten Krise die Stirn geboten. Die zweitärmste Volkswirtschaft Südamerikas kann im Jahr 2009 ein Wachstum von vier Prozent verzeichnen, lobte IWF-Chefanalyst Gilbert Terrier vergangene Woche bei der Präsentation des Berichts »Ökonomische Perspektiven der Amerikas 2009«. Der zweitgrößte Erdgasexporteur steht mit diesem Wert an der Spitze des gesamten Kontinents. »Die Akkumulierung von Ersparnissen und Geldreserven erlauben dem Land die Durchführung antizyklischer Maßnahmen«, nahm Terrier auf Boliviens gesundeten Staatshaushalt Bezug. Erstmals seit 1970 weist der kein Defizit auf. Mit eigenen Mitteln wurden Schulden abgebaut (2006: von 4,4 auf 2,4 Milliarden US-Dollar) und die Aufnahme neuer Kredite verhindert. Die Devisenreserven hingegen kletterten in drei Jahren auf die Rekordhöhe von acht Milliarden Dollar. In Zeiten der Krise konnte die nationale Währung Boliviano durch weitere Entkoppelung vom US-Dollar vor Abwertung geschützt werden. Zur Stimulierung der Binneninvestitionen gelang es zudem, die Zinsen auf einem stabil niedrigen Wert zu halten und staatliche Infrastrukturprogramme wie den Bau von Straßen, Schulen und Krankenhäusern ungehindert voranzutreiben. Während die öffentlichen Ausgaben um neun Prozent anstiegen, wuchsen die Einnahmen des Fiskus von 2005 bis 2008 um stolze 18 Prozent.

Der Schlüssel zum Geldsegen liegt im Wahlversprechen von Präsident Evo Morales. Nach seinem Sieg im Dezember 2005 erfüllte er mit der Nationalisierung der Gas- und Ölindustrie Forderungen der sozialen Bewegungen. Neu ausgehandelte Verträge mit den Ölmultis und hohe Energiepreise auf dem Weltmarkt bescherten dem Land ab Mai 2006 eine Verdreifachung seiner Staatseinnahmen (2005: 992 Millionen US-Dollar, 2006: 1,8 Milliarden US-Dollar, 2007: 1,9 Milliarden US-Dollar, 2008: 2,7 Milliarden US-Dollar). Über die wiederverstaatlichte Energiefirma Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) flossen die Gewinne aus dem Gas- und Ölverkauf zum großen Teil in die Staatskasse. Von dort aus wurde der Reichtum umverteilt. Den Schwächsten der Gesellschaft, Kindern (Schulgeld »Juancito Pinto«), Alten (»Rente der Würde«) und Müttern (Muttergeld »Juana Azurduy«) wird unbürokratisch und landesweit unter die Arme gegriffen. Über ein Viertel aller Bolivianer kommen derzeit in den Genuß des Bonussystems, so Regierungsquellen. Noch immer müssen 40 Prozent mit weniger als einem US-Dollar über den Tag kommen.

Diese unmittelbare Form der Armutsbekämpfung fand selbst beim IWF-Experten anerkennende Erwähnung, die Sozialprogramme zeigten Wirkung. »Schaue ich mir das Bolivien von vor zehn Jahren an, dann muß ich gestehen, daß mir die Sozialpolitik dieser Regierung äußerst gut gefällt«, so Terrier, der im Schlußwort seiner Präsentation wieder die gewohnten IWF-Regeln betonte. Nach der überstandenen Weltwirtschaftskrise müsse sich der Staat »allmählich« von seiner »impulsgebenden Rolle« verabschieden.

Wirtschafts- und Finanzminister Luis Arce (MAS) sieht das anders: »Wir glauben nicht, daß der Staat nur bei Problemen oder Krisen eingreifen soll, um konjunkturelle Momente zu überwinden. Wir glauben, daß die Beteiligung des Staates permanent sein muß«. Bolivien verfolge ein »neues Wirtschaftsmodell«, lehnt Arce IWF-Ratschläge dankend ab. Zum ersten Mal überhaupt wurde der Amerika-Jahresbericht des Währungsfonds in dem Andenland mit seinen neun Millionen Einwohnern vorgestellt. Wegen »ideologischer Differenzen« hatte die Morales-Regierung seit 2006 alle IWF-Finanzierungsprogramme abgebrochen, Experten wurden nicht angehört. Die Zahlen sprechen für sich. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt stieg innerhalb der zurückliegenden drei Jahre von 1010 auf 1651 US-Dollar, der Konsum der Privathaushalte wächst stetig.

Das war nicht immer so. Noch in den 90ern galt Bolivien als Musterknabe des »Washington Consensus«. Vorgängerregierungen befolgten seit den 80er Jahren die Rezepte des Währungsfonds. Eins zu eins wurden dessen Strukturanpassungsmaßnahmen (SAP) umgesetzt: drastische Absenkung der Staatsausgaben, Privatisierung von Gas- und Ölbusineß, Bergbau, Renten- und Gesundheitssystemen, von Fluglinien, Telekommunikationsanbietern, Wasser- und Stromversorgung sowie Liberalisierung des Bankensystems. Genau diese gierige Rücksichtslosigkeit aber führte in Bolivien letztlich zur Entmachtung der Verfechter neoliberaler Politik.

* Aus: junge Welt, 11. November 2009


Zurück zur Bolivien-Seite

Zurück zur Homepage