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Bolivien verankert dezentralen Staat

Präsident Evo Morales unterzeichnete letztes Rahmengesetz zur Neugründung des Gemeinwesens

Von Benjamin Beutler *

Die legislative »Neugründung Boliviens« hat am Montag (19. Juli) seine letzte formale Hürde genommen. Die Tieflandopposition kündigte Widerstand an.

Das Parlament gab die Vorlage, der Präsident verwandelte: Am Montag unterzeichnete Boliviens Präsident Evo Morales das »Rahmengesetz für Autonomie und Dezentralisierung«, nachdem das von der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) kontrollierte Parlament am Sonnabend seine Zustimmung gegeben hatte.

»Die Volksversammlung hat die fünf Rahmengesetze, welche die fünf Säulen der Struktur des neuen Plurinationalen Staates sind, in Rekordzeit zur Abstimmung gebracht«, bedankte sich Boliviens Vizepräsident und MAS-Chefideologe Álvaro García Linera bei den Parlamentariern von der Regierungsseite. Das Lob musste allerdings hart erarbeitet werden. Bis zum 22. Juli hatte Boliviens Gesetzgeber Zeit, um nationales Recht an die im Januar 2009 per Volksentscheid beschlossene neue Magna Charta anzupassen.

In mehreren teils 15-stündigen Marathonsitzungen, bei denen sich manch müder Abgeordneter nur mit Kaffee und Koka-Blättern wachzuhalten vermochte, wurden die insgesamt fünf Gesetzespakete in den vergangenen Wochen in Kraft gesetzt. Wegen ihren klaren Zweidrittelmehrheit in Parlament und Senat konnte die MAS im Alleingang ein Gesetzespaket pro Woche zur Abstimmung bringen.

Emiliana Aiza, Vorsitzende der MAS-Fraktion im Parlament, hob am Montag die Bedeutung der Dezentralisierung des einstigen Zentralstaates hervor. Mit den neuen Autonomien auf departamentaler, regionaler, indigener und kommunaler Ebene würde »in jeder Ecke Boliviens jedermann politische Anerkennung finden, egal ob arm, ob reich, ob Mann, ob Frau«, so die Politikerin, die wie so viele aktive MAS-Mitglieder weiblich und indigener Herkunft ist.

Boliviens Opposition hingegen sieht in der Machtfülle der Regierung eine »Gefahr für die Demokratie«, so der Ex-Parlamentarier und konservative Polit-Kommentator Jorge Lazarte. In der Oppositionshochburg Santa Cruz im amazonischen Tiefland kündigten Regierungsgegner derweil einen Streik aus Protest gegen die neue Gesetzgebung an. Laute Töne kamen erstmals auch wieder vom reaktionären Bürgerkomitee Pro Santa Cruz. Man werde sich beraten, um »den Kampf für die Autonomie wieder aufzunehmen«, so der Präsident des Unternehmerbündnisses, Luis Núñez.

Im September 2009 stand Bolivien am Rande eines Bürgerkrieges. Die rechten Präfekten der Tieflanddepartamentos Santa Cruz, Beni, Pando und Tarija hatten sich zum »Halbmond-Pakt« zusammengeschlossen, um den von der MAS verfolgten Verfassungsprozess zu sabotieren. Der Versuch regionaler Abspaltung endete im Juni 2009 schließlich in der illegalen Durchführung von Referenden zur Annahme eigener Autonomie-Statuten, da das Oberste Nationale Wahlgericht seine Zustimmung verweigerte.

Das »Rahmengesetz für Autonomie und Dezentralisierung« schiebt dieser Entwicklung, die die nationale Einheit Boliviens lange in Frage stellte, endgültig einen Riegel vor. Die neuen Departamento-Parlamente werden die Autonomie-Statuten nun auf Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen. Erst dann können die Landesverfassungen per Zweidrittelmehrheit angenommen werden. Genau dies aber stößt der Rechten auf. Auch in den Departamento-Parlamenten hat die MAS hohe Stimmenanteile.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Juli 2010


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