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Nachhilfe in Demokratie

Steht Boliviens Präsident eine weitere Amtszeit zu? Ein CNN-Interview mit Evo Morales sorgt für Aufregung

Von Benjamin Beutler *

Ein Interview, das Boliviens Präsident Evo Morales während des UN-Gipfeltreffens in New York zur Verwirklichung der Millenniumsziele gegeben hatte, hat in seiner Heimat eine Debatte um dessen möglichen Wiederwahlambitionen ausgelöst. Auf die Frage einer spanischsprachigen Journalistin, ob er als Präsidentschaftskandidat im Dezember 2014 wieder antreten werde, erklärte das Staatsoberhaupt die aktuelle gesetzliche Regelung: »Die Verfassung sagt wortwörtlich 'Es ist eine Wiederwahl erlaubt'. Meine jetzige Amtszeit ist die erste im plurinationalen Staat Bolivien«. Die Interviewerin bohrte weiter, ob die Wiederwahl dann theoretisch doch möglich sei. »Nach meiner Interpretation, ja«, antwortete Morales. Ob er allerdings erneut kandidieren könne, sei »nicht meine Entscheidung, sondern natürlich die des Volkes, es ist die Verfassung«.

Bei der CNN-Reporterin löste die Ermächtigung des Volkssouveräns pures Unverständnis aus: »Aber beschädigt das nicht die Demokratie?« vermutete sie. Dem Gegenüber huscht ein Lächeln über das Gesicht. »Nein, das ist doch das Demokratischste überhaupt«, gab Morales Nachhilfeunterricht in Sachen parlamentarischer Demokratie.

In der Heimat nutzte die Opposition das Interview, um gegen den Präsidenten zu polemisieren. Er verstoße gegen die Verfassung und wolle »auf ewig Präsident bleiben«, ließen sich Morales-Gegner in zahlreichen Zeitungen des Landes zitieren.

Tatsächlich ist es eine juristisch feinsinnige Frage, ob die aktuelle Amtszeit von Morales nun als erste oder zweite gewertet wird. Die Präsidentschaft nach seiner ersten Wahl vom Januar bis Dezember 2010 wurde durch die per Volksentscheid in Kraft getretene neue Magna Charta zur »Neugründung Boliviens« im Dezember 2009 vorzeitig beendet. In den vorgezogenen Wahlen im selben Monat wurde Morales zum ersten Präsidenten des Plurinationalen Staates Bolivien gewählt. Der Präsident argumentiert im Interview, daß er sein Mandat nicht zu Ende geführt habe: »Das Mandat der kolonialen Verfassung sah fünf Jahre vor, darum wäre ich verfassungsrechtlich für eine erste Wiederwahl zugelassen.«

Die Opposition wirft Morales nun Wortbruch vor. Im Oktober 2008, mitten im Verfassungsprozeß, hatte sie im Senat ihre Einwilligung für ein abschließendes Referendumsgesetz verweigert, die heute verschwundene PODEMOS-Partei hatte noch eine Sperrmehrheit. Das Land stand am Rande eines Bürgerkrieges, die konservativen Tieflandpräfekturen hatten zur offenen Rebellion gegen die Zentralregierung aufgerufen, mehrere Anhänger der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) wurden ermordet. Um den Weg für die neue Verfassung freizumachen, hatte Morales auf eine Wiederwahloption verzichtet und die im Gesetz Nr. 4021 festgeschrieben. Die Rechte stimmte daraufhin für die Durchführung des Verfassungsreferendums. Nach Ansicht der Regierung ist das Gesetz aber mit der neuen Verfassung ungültig. 2008 habe man allein auf eine »unbegrenzte Wiederwahl« verzichtet, erklärte Autonomieminister Carlos Romero. Für eine Wiederwahl des Präsidenten gäbe es nach dieser Interpretation keine rechtlichen Bedenken. Morales will die Debatte vertagen. »Ich bin jetzt weder im Wahlkampf noch denke ich über die Wiederwahl nach«, kommentierte der erste Indigene im Palacio Quemado von La Paz Ende der vergangenen Woche die Diskussion. Er will frühestens am 22. Januar 2015 aus dem Amt scheiden wird.

* Aus: junge Welt, 27. September 2010


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