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Schicksalsabstimmung in Bolivien

Autonomie-Referendum stellt die Regierung von Evo Morales auf ein harte Probe

Von Benjamin Beutler, Santa Cruz de la Sierra *

Gegen den Willen der Zentralregierung Boliviens sind die Wähler der Region Santa Cruz im Südosten des Landes von ihrer Regionalführung aufgerufen, am Sonntag (4. Mai) über eine weit gehende Autonomie der reichen Region vom Rest des verarmten Landes abzustimmen.

Bolivien steht am 4. Mai eine Schicksalswahl bevor. Etwa eine Million Bürger sollen über ein »Autonomie-Statut« für die Region Santa Cruz abstimmen, das ohne demokratische Beteiligung der Bevölkerung ausgearbeitet wurde. Das Statut ist eine Art Landesverfassung nach dem Vorbild der spanischen Region Katalonien. Boliviens Oberstes Nationales Wahlgericht hatte festgestellt, dass dieses Dokument verfassungswidrig und ein Referendum darüber folglich unrechtmäßig ist. Die konservativen Organisatoren halten jedoch an der Abstimmung fest. Alle Vermittlungsversuche sind gescheitert. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatte den Argentinier Dante Caputo eigens nach Bolivien entsandt, um zu schlichten. Auch das kontinentale Konsultationsgremium der »Rio-Gruppe« versuchte den Konflikt zu entschärfen. Vergebens!

Ruben Costas, Präfekt der Region Santa Cruz und einer der erbitterten Widersacher des bolivianischen Präsidenten Evo Morales, sprach auf einer Abschlusskundgebung der Autonomie-Verfechter davon, dass keiner den »Willen des Volkes von Santa Cruz« brechen könne. Der Vorsitzende des rechtskonservativen Bürgerkomitees »Pro Santa Cruz«, Branko Marinkovich, bedankte sich im Voraus beim »stolzen und edlen Volke der Cruceños, das den Zentralismus und die ausländischen Kräfte abgewehrt hat, die uns den Traum von der Autonomie nehmen wollten«. Soziale Bewegungen dagegen beklagen eine »politische Geiselnahme der Bevölkerung« durch eine nur wenige wohlhabende Familien zählende Elite. Der OAS-Gesandte Caputo warnte letzte Woche vor einer »blutigen« Auseinandersetzung am Rande der Volksbefragung.

Vorausgegangen war eine monatelange und millionenschwere Medienkampagne, teils von der US-amerikanischen Entwicklungsbehörde USAID gesponsert. Begleitet wurde sie von gewalttätigen Aktionen der rechtsradikalen Jugendunion Santa Cruz (UJC) gegen Andersdenkende.

Bolivien hat in den letzten zwei Jahren unter der Präsidentschaft Evo Morales' und der Regierung seiner Bewegung zum Sozialismus (MAS) einen Politikwechsel erlebt. Die Macht des Staates wurde gestärkt, was teils erbitterten Widerstand hervorrief. Vor dem Hintergrund regionaler Unterschiede zwischen dem amazonischen Tiefland und dem andinen Hochland verstärkten sich separatistische Tendenzen mit dem Ziel, Kompetenzen des Zentralstaats für Bodenschätze, Polizei, Bildung und Steuern auf die regionale Ebene zu verlagern. So will sich die konservative Opposition vom politischen Richtungswechsel abkoppeln. Der von der Bewegung zum Sozialismus in Gang gesetzte Verfassungsprozess zur »Neugründung Boliviens«, der vor allem der indigenen Bevölkerung mehr Rechte zuspricht, wurde durch dieses Manöver gebremst, ein Referendum über die im Dezember 2007 erarbeitete MAS-Verfassung steht noch immer aus. Angesichts dessen wäre ein Sieg der Separatisten bei der Abstimmung in Santa Cruz -- und weitere Referenden in drei anderen Regionen sollen folgen -- für Evo Morales ein großer Rückschritt auf dem Weg zur »demokratisch-kulturellen Revolution«.

Seine Gegner werfen Morales unter anderem seine enge Freundschaft zu Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez vor. Autonomie -- behaupten sie -- sei die einzige Alternative zu venezolanischer Fremdbestimmung und zentralstaatlicher Diktatur samt wirtschaftlichem Niedergang. »Unsere einzige Waffe ist die Demokratie«, tönt Präfekt Ruben Costas.

Wegen offensichtlicher Illegalität des Referendums und fehlender Genehmigung durch den Kongress haben UNO, OAS und Europäische Union die Entsendung von Wahlbeobachtern abgelehnt. Das Nationale Wahlgericht verweigert die Ausrichtung des Urnengangs, so dass -- ebenfalls nicht im bolivianischen Gesetz vorgesehen -- ein privates Unternehmen die Wahl veranstaltet.

Kubas Altpräsident Fidel Castro sprach von einer »dramatischen Krise«, ausgelöst durch »den Imperialismus, der Bolivien zu entzweien sucht«.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Mai 2008

Letzte Meldung

Wahlurnen vor Referendum in Bolivien verbrannt

Anhänger des linksgerichteten bolivianischen Präsidenten Evo Morales haben kurz vor dem umstrittenen Autonomie-Referendum in dem wohlhabenden Departement Santa Cruz Wahlurnen verbrannt.

Die Aktion von Bauern in den Gemeinden Yapacani und San Julián am Samstag (3. Mai) war das erste Anzeichen für befürchtete Gewaltausbrüche im Zusammenhang mit der Abstimmung an diesem Sonntag (4. Mai) in der im Südosten des Landes gelegenen Region.

Die Regierung von Morales, dem ersten Indio-Präsidenten des südamerikanischen Landes, hat die Abstimmung für illegal und das Ergebnis für irrelevant erklärt. Umfragen sagten den Befürwortern der weitgehenden Unabhängigkeit von Santa Cruz eine Mehrheit voraus.

Die Abstimmung in Santa Cruz, der im Juni weitere drei gleichen Zuschnitts in anderen Departements folgen sollen, ist Teil des Machtkampfs zwischen der von Morales vertretenen verarmten Indio-Mehrheit des Landes und den wohlhabenderen, mehrheitlich von Nachfahren europäischer Einwanderer dominierten Regionen.

Der frühere konservative Präsident Jorge Quiroga (2001) machte die Regierung für die Gewalt verantwortlich. Zugleich kritisierte er die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), weil sie einseitig Morales unterstütze. Dem linksgerichteten venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez warf er vor, gewalttätige Gruppen in Bolivien zu finanzieren.

Quelle: dpa



"Referendum ist für Regierung ein Affront"

Trotz des Rechtsbruchs: Boliviens Staatsführung will Autonomiekrise friedlich beilegen. Ein Gespräch mit Hugo Fernández **

Am Sonntag soll in dem östlichen Departement Santa Cruz ein Autonomiereferendum stattfinden. Weshalb wird diese Abstimmung jetzt ausgerichtet? Welche Perspektive sehen Sie für den Konflikt?

Die Autonomieforderungen der Departements reichen mindestens bis in die 50er Jahre zurück. Es sind auch keine homogenen Verlangen. Weitere Departements machen es Santa Cruz derzeit nach, sie haben aber andere Beweggründe. Es sind auch nicht unbedingt die reichsten Regionen, die mehr Autonomie wollen. Es stimmt zwar, daß Santa Cruz zusammen mit Cochabamba und La Paz rund 70 Prozent der Wirtschaftskraft des Landes vereinen. Das heißt aber nicht, daß es die reichsten Regionen sind. Es ist Teil der herrschenden Ideologie in Santa Cruz, daß diese Region als die wohlhabendste und tüchtigste dargestellt wird. Tatsächlich hat die Zentralregierung seit den 50er Jahren stetig in diese Region investiert, ihre heutige wirtschaftliche Situation ist also ein Resultat dieser Investitionen. Am Ende geht es nicht darum, welcher der reichste oder der ärmste Teil des Landes ist. Es geht darum, wo die Erdgasvorkommen und andere natürliche Ressourcen liegen: in Santa Cruz und im benachbarten Tarija.

Trotzdem forciert Santa Cruz einen Autonomieentscheid. Die benachbarten Departements Beni, Tarija und Pando sollen folgen. Wie wird sich die Lage Ihrer Meinung nach entwickeln?

Zunächst einmal ist dieses erste Referendum illegal, weil die geltende Rechtslage solche Abstimmungen nicht erlaubt. Daß sie trotzdem durchgeführt werden, ist ein Affront gegen die Staatsführung. Die Position der Regierung ist, dieser Provokation nicht mit Gewalt entgegenzutreten, die Lage zu beobachten. Sie behält sich aber vor, später rechtlich zu intervenieren, weil das Autonomiereferendum in Santa Cruz in offenem Widerspruch zur Landesverfassung steht – sowohl zur alten als auch zur neuen, die noch nicht in Kraft ist. Die Organisatoren in Santa Cruz verweigern sich zugleich den angebotenen Verhandlungen, die das Ziel hätten, ihr Vorhaben mit der Verfassung in Einklang zu bringen. Es handelt sich also um eine schwere Krise, aber ich glaube nicht, daß eine Sezession droht. Die Grenzen in Südamerika sind heilig. Mit diesem Prinzip zu brechen, hieße, die Büchse der Pandora zu öffnen. Das kann noch nicht einmal im Interesse der USA liegen.

Sie haben einmal gesagt, daß die Verfassung Boliviens nicht schlecht sei. Warum wurde sie dann neu geschrieben?

Das ist eine Frage des Prinzips. Wenn ein Teil der Bevölkerung bei der Erstellung der geltenden Konstitution nicht befragt wurde, dann kann sie auf diese Menschen auch nicht angewandt werden. Und die indigenen Völker Boliviens wurden nicht konsultiert.

Ursprünglich sollte am Sonntag in einem landesweiten Referendum über die neue Verfassung abgestimmt werden. Das Oberste Wahlgericht hat das verhindert. Warum?

Das Gericht hatte sich gegen beide Referenden ausgesprochen. Die Regierung hat sich an die Entscheidung gehalten, Santa Cruz nicht.

Für wann wird die Abstimmung dann angesetzt werden?

Das kann ich nicht sagen. Es gibt eine Reihe technischer Auflagen. Im Grunde ist die Verfassung bis auf einen Artikel verabschiedet. Dieser offene Passus regelt die Obergrenze von Landeigentum. Wenn darüber in einem Referendum entschieden wurde, dann kann auch über den gesamten Text der neuen Verfassung abgestimmt werden.

Und wie können die Streitigkeiten beigelegt werden?

Wenn die Verfassung geändert wird, bedeutet das nicht, daß sich die Menschen ändern. Der neue Text ist zunächst eine Ansammlung von Idealvorstellungen, die in der Folge erst in die Praxis umgesetzt werden müssen. Das wird nicht einfach sein. Aber es wird auf jeden Fall besser sein, die Kontroversen auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Wir wollen die Gewalt in einer Sache verhindern, die dem Frieden und der Entwicklung dienen soll.

Interview: Mirari Isasi (Gara)

Übersetzung: Harald Neuber

** Hugo Fernández ist stellvertretender Außenminister Boliviens

Aus: junge Welt, 3. Mai 2008



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