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Belgiens Krise verschärft sich weiter

Unsicherheit nach klarem Sieg der flämischen Separatisten / Sozialisten stärkste Partei in Wallonien

Von Tobias Müller, Brüssel *

»Ein neues Land wählen« – so titelte »Le Soir«, die führende Tageszeitung des frankofonen Belgiens, am Wochenende. Vor allem die Stimmberechtigten in Flandern nahmen das wörtlich: Mit 28,2 Prozent ging fast jede dritte Stimme an die separatistische Neu-flämische Allianz (N-VA), deren langfristiges Ziel die Abspaltung des nördlichen Landesteils ist.

Die konservative N-VA war erstmals bei föderalen Wahlen allein angetreten. 2007 hatte sie noch eine Koalition mit den Christdemokraten (CD&V) gebildet und zusammen 29,7 Prozent erreicht. Diese landeten nun auf dem zweiten Platz, erzielten aber mit 17,6 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis aller Zeiten. Dahinter fielen die Sozialdemokraten (sp.a) mit 15,0 Prozent leicht zurück. Die liberale Open VLD verlor gut fünf Prozentpunkte und landete bei 14 Prozent. »Leidtragender« des Aufstiegs der N-VA ist neben den Christdemokraten auch der rechtsextreme Vlaams Belang, der von 19,1 auf 12,6 Prozent fiel.

In Wallonien stieg die Parti Socialiste (PS) um mehr als acht Prozent und landete mit 36,6 Prozent einen deutlichen Wahlsieg. Dahinter folgt der liberale Mouvement Réfromateur (MR) mit 24,7 Prozent, der 2007 noch stärkste Partei im Süden war. Die humanistische Partei cdH verlor mit 14,7 Prozent leicht, ebenso wie die frankofonen Grünen Ecolo (12,8 Prozent).

Damit ist das alte Kräfteverhältnis im Süden wieder hergestellt, wo die PS traditionell die stärkste Partei stellt. 2007 hatten die Sozialisten diese Position nach einer Reihe von Skandalen vorübergehend eingebüßt. Der rassistische Front National scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde.

Die Reaktionen am Wahlabend waren zunächst verhalten. Bart de Wever, Vorsitzender des Wahlsiegers N-VA, begrüßte die jubelnde Parteibasis mit einem triumphalen »Wir haben Geschichte geschrieben«. Allerdings müsse die N-VA »im Bewusstsein leben, dass 70 Prozent der Flamen uns nicht gewählt haben«. Daher sei es nötig, Brücken zu den anderen flämischen Parteien zu schlagen, aber auch zu den Frankofonen.

In Flandern ist es weitgehend Konsens, Belgien in eine Konföderation stark autonomer Teilstaaten umzuwandeln. Die N-VA indes setzt darauf, dass dies der erste Schritt zu einem unabhängigen Flandern ist. Alle frankofonen Parteien wollen eine Staatsreform nur im Rahmen einer starken Föderation. Wie de Wever am Montag dem Radiosender Radio 1 sagte, müsse nun der Wahl- und Gerichtskreis Brüssel-Halle-Vilvoorde, mit dem bisher Rechte von französischsprachigen Bürgern im niederländischsprachigen Umland der Hauptstadt abgesichert wurden, aufgelöst werden. Die Auseinandersetzungen um seinen Neuzuschnitt und der damit verbundene Sprachenstreit hatten im April zum Sturz der Koalitionsregierung des christdemokratischen Premierministers Yves Leterme geführt.

Die Bildung einer neuen Regierung wird nach diesem Wahlergebnis als schwierig eingeschätzt. Elio di Rupo, der Chef der Parti Socialiste, erklärte sich umgehend zu Verhandlungen mit der N-VA bereit. Auch einer Staatsreform stehe die PS offen gegenüber. Während di Rupo versöhnliche Töne anschlug und die Abgeordneten beider Sprachgruppen aufforderte, aufeinander zuzugehen, äußerten sich die frankofonen Liberalen deutlich negativer. Der bisherige Staatssekretär Bernard Clerfayt nannte den Sieg der N-VA einen »Albtraum«. Parteichef Didier Reynders, zuletzt Vizepremier, sprach von einer »Gefahr für Belgien« und folgerte: »Die frankofone Einheit wird in den kommenden Monaten bestehen bleiben.«

Der Sprachenstreit ist allerdings nicht der einzige potenzielle Konfliktpunkt der anstehenden Koalitionsverhandlungen. Auch bei sozio-ökonomischen Themen driften die Landesteile weit auseinander. Während in Flandern etwa 60 Prozent für konservative und liberale Parteien stimmten, wählte in Wallonien die gleiche Prozentzahl progressive Parteien. PS-Chef di Rupo interpretierte den Wahlsieg denn auch als Zeichen dafür, dass die Bürger sich »für eine solidarische Gesellschaft« entschieden hätten.

Wenn Belgien nun am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, schaut Europa auf ein Land mit unsicherer Zukunft. Die EU-Flagge immerhin war am Wahlabend bei der N-VA neben den obligatorischen flämischen Fahnen allgegenwärtig: Der Hintergrund der Bühne war mit dem neuen Parteilogo drapiert, auf dem einer der europäischen Sterne durch einen flämischen Löwen ersetzt wird. Passend dazu titelte »Le Soir« am Tag nach den Wahlen: »Der Tsunami N-VA wird das Gesicht Belgiens verändern.«

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juni 2010


Krise spitzt sich zu

Belgien: Triumph der rechten Nationalisten bei den vorgezogenen Parlamentswahlen. Separatismus soll salonfähig gemacht werden

Von Herwig Lerouge, Brüssel und Tobias Schmidt (apn) **


Die rechts-nationalistische Nationaal Vlaamse Aliantie (NV’A) von Bart De Wever ist bei den Parlamentswahlen vom Sonntag Belgiens stärkste Partei geworden. Mit 32 Prozent der Stimmen in der Region Flandern hat sie doppelt so viel erhalten wie die CD&V (Christdemokraten – 16 Prozent). Die Sozialdemokraten kommen auf 15 Prozent, die Liberalen auf 13 Prozent. In Flandern haben alle Parteien Stimmen an die NV-A verloren, auch die Neofaschisten des Vlaams Belang, die von 19 auf 12 Prozent fielen. Nur die Grünen (6,2 Prozent) und die Partei der Arbeit (Marxistisch, 1,4 Prozent) konnten leicht zulegen.

Die NV-A ist nun auch in ganz Belgien stärkste Partei. Sie wird mit 27 Abgeordneten im Parlament vertreten sein, gefolgt von den frankophonen Sozialdemokraten mit 26. In Wallonien und Brüssel sind sie die großen Gewinner, die Liberalen die Verlierer. Die Grünen sind stabil und die Partei der Arbeit bekommt insgesamt 1,7 Prozent. Das bedeutet ein Plus von 0,6 Prozent.

Die Wahlen fanden ein Jahr vor dem Ende der normalen Legislaturperiode und nach drei Jahren politischer Dauerkrise statt, nachdem die Koali­tion des flämischen Christdemokraten Yves Leterme am Wiederaufflammen des Streites über die Zukunft der zweisprachigen Region rund um Brüssel zerbrochen war.

Der Wahlerfolg der NV-A bedeutet eine weitere Stärkung des flämischen Nationalismus. Die Partei wirbt offen und unzweideutig für das Verschwinden Belgiens und die Unabhängigkeit Flanderns. In der flämischen Presse werden die französisch sprechende Parteien als diejenigen dargestellt, die jede »gerechte« Forderung der Flamen ablehnen. Ein großer Teil der Flamen geht solchen Parolen inzwischen auf den Leim und hält die Unabhängigkeit für ein probates Mittel der Lösung der politischen Probleme des Landes. So werden die rechtsnationalistischen Parteien in der flämischen Presse als die einzige Opposition gegen der Regierung dagestellt.

Im frankophonen Wallonien konnte sich die sozialdemokratische PS als stärkste Partei durchsetzen. Gemeinsam mit ihrer flämischen Schwesterpartei SP.A stellen die Sozialdemokraten damit zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder den größten politischen Block. Im nationalen Parlament können sie gemeinsam mit 38 Sitzen rechnen und haben damit Aussicht auf das Amt des Regierungschefs, wenn sie koalieren. Die NV’A hat keinen Bündnispartner in der Wallonie. Ob angesichts der komplizierten föderalen Struktur und der tiefen Feindschaft zwischen den Sprachengruppen bis zum 1. Juli eine neue Regierung gebildet ist, gilt auch nach der Wahl als fraglich. Dann übernimmt Belgien für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. PS-Chef Elio di Rupo ließ sich am Sonntag als Wahlsieger feiern und gab sich staatsmännisch. Er rief alle Parteien auf, bei der Regierungsbildung »einen ausgewogenen Kompromiß zu finden«.

De Wever hat vor der Wahl ausgeschlossen, sich zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Schließlich will er die Zentralregierung entmachten. Am Sonntag machte der 39jährige aber klar, daß er künftig die Regierung mitbestimmen will. »Wir werden endlich die notwendigen Reformen umsetzen«, sagte er unter dem Jubel seiner Anhänger. Die Zentralregierung soll nach seinen Vorstellungen ihre verbliebenen Schlüsselkompetenzen für Justiz und Sozialsysteme an die Regionalregierungen abgeben.

In Wallonien gibt es keine vergleichbare Separatismusbewegung. Der arme Süden mit seinen 4,5 Millionen Einwohnern profitiert vom Zentralstaat, der Ausgleichszahlungen aus dem wohlhabenderen Norden (rund sechs Millionen Einwohner) überweist. PS-Chef di Rupo legte gleich einen Gegenentwurf zur NV-A vor. Das gute Ergebnis für die Sozialisten drücke den Wunsch der Wähler nach Solidarität aus, nicht nach Konkurrenz untereinander, sagte er an die Adresse De Wevers.

Der Wahlsieg der NV-A spitzt die belgische Krise weiter zu. Der Separatismus, früher vor allem vom faschistschen Vlaams Belang vertreten, wird nun salonfähig. Experten prophezeien Belgien eine lange Periode von Verhandlungen und und eine Zuspitzung der Krise.

** Aus: junge Welt, 15. Juni 2010


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