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Belgien blockiert sich selbst

Schwierige Regierungsbildung. Flandern versus Wallonie – die Konflikte verschärfen sich

Von Lydia Krüger *

Genau fünf Monate sind seit den belgischen Parlamentswahlen vergangen. Von der Bildung einer handlungsfähigen Regierung ist man jedoch weiter entfernt als je zuvor. Ursache der belgischen Staatskrise ist der anschwellende flämische Nationalismus bzw. die Tatsache, daß eine Mehrzahl der Flamen nicht länger bereit ist, die ärmere Wallonie finanziell zu unterstützen. Dies zeigen nicht nur die Wahl­erfolge des rechtsextremen »Vlaams Belang«, der in Flandern bei den letzten Wahlen mit knapp 19 Prozent zur zweitstärksten Partei avancierte. Auch die flämischen Konservativen und Liberalen haben die Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, mehr Autonomie in der Haushaltspolitik durchzusetzen, damit die in Flandern erwirtschafteten Steuern und Sozialabgaben nicht länger in den armen wallonischen Süden des Landes fließen. Und da es relevante landesweit tätige Parteien in Belgien seit den siebziger Jahren nicht mehr gibt und die wallonischen Parteien einer Autonomie in der Steuer- und Arbeitsmarktpolitik ablehnend gegenüberstehen, ist die politische Blockade perfekt.

Nun hat der flämisch-wallonische Konflikt eine lange Geschichte – und neben ökonomischen Fragen spielt in ihm auch die Sprachenfrage eine zentrale Rolle. Nach der Staatsgründung Belgiens 1830 war Flandern der ärmere Landesteil. Französisch wurde Amtssprache, das Flämische als minderwertiger Dialekt verachtet. Im Lauf des 20. Jahrhunderts gelang es den Flamen, die volle Gleichberechtigung ihrer Sprache durchzusetzen. Und seit den sechziger Jahren ist Flandern auch wirtschaftlich der stärkere Landesteil So wurde die Wallonie von der Krise in der Stahlindustrie schwer gebeutelt und hat seit Jahren mit einer Arbeitslosenquote von 15 bis 20 Prozent und entsprechender Armut zu kämpfen. Dagegen zählen die Flamen nicht zuletzt wegen der riesigen Häfen in Antwerpen und Zeebrügge zu den »Gewinnern der Globalisierung« und kontrollieren mittlerweile alle wichtigen belgischen Industriezweige und Unternehmen.

Eskaliert ist der flämisch-wallonische Konflikt in den letzten Tagen an der Frage der Teilung des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde. Mit dieser Teilung des einzigen zweisprachigen Wahlkreises wollen die Flamen eine weitere »Französisierung« des Brüsseler Umlands verhindern. Allerdings würde das bedeuten, daß etwa 150000 frankophone Wähler künftig nicht mehr für wallonische Parteien stimmen könnten. Und da die flämische politische Mehrheit nun erstmals in der Geschichte Belgiens die wallonische Minderheit einfach überstimmt hat, statt einen Kompromiß zu suchen, haben sämtliche frankophonen Abgeordneten unter Protest den Parlamentssaal verlassen und mit einem Abbruch der Koalitionsverhandlungen gedroht. Eine Stärkung des interregionalen Finanzausgleichs und die Überwindung der Spaltung in flämische und wallonische Parteien, Medien usw. ist also nicht in Sicht. So scheint die aktuelle Staatskrise vor allem den separatistischen Kräften in die Hände zu spielen: Aktuell sprechen sich nur noch etwa 40 Prozent der Flamen für einen Erhalt Belgiens aus.

Druck zur Überwindung der Krise dürfte in den nächsten Wochen jedoch von anderen EU-Staaten kommen. Schließlich soll am 13. Dezember in Lissabon der neue »Reformvertrag« von den Regierungschefs der 27 EU-Staaten unterzeichnet werden – und es würde ein schlechtes Licht auf die ganze EU werfen, wenn ausgerechnet Belgien wegen eines Streits über Sprachen, Geld und die Zukunft der europäischen Hauptstadt hierzu nicht in der Lage wäre.

* Aus: junge Welt, 10. November 2007


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