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Belgische Staatskrise vorerst beigelegt

Guy Verhofstadt bildet Übergangsregierung

Von Tobias Müller, Amsterdam

192 Tage nach den Wahlen haben fünf belgische Parteien sich auf die Bildung einer Übergangsregierung geeinigt. Mit einer Zweidrittelmehrheit von 101 Stimmen im 150-köpfigen Parlament können sie nun die Staatsreform in Angriff nehmen.

Auf flämischer Seite sind Christdemokraten (CD&V) und Liberale (Open VLD) an der Regierung beteiligt, die frankophonen Landesteile werden durch das liberale Mouvement Réformateur (MR), die Sozialisten (PS) und das Demokratisch-Humanistische Zentrum (CDH – ehemals Christdemokraten) vertreten. Bis Ostern 2008 hat die Koalition unter Expremier und Verhandlungsführer Guy Verhofstadt (Open VLD) nun Zeit, sich den dringenden sozialökonomischen Aufgaben zu widmen.

Nebenbei soll sie Inhalte und Modalitäten der heftig umstrittenen Staatsreform klären, an der die Regierungsbildung bisher gescheitert war. Für die »Regionalisierung«, die faktische Umwandlung Belgiens in eine Föderation, die von flämischen Parteien gefordert und von wallonischen abgelehnt wird, ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Ende März soll dann eine »definitive« Regierung mit Wahlsieger Yves Leterme (CD&V) die Geschäfte übernehmen.

Die in der Nacht zu Mittwoch erzielte Einigung war ein Spiegelbild der von immer neuen Zuspitzungen geprägten Regierungsverhandlungen. Die stärkste frankophone Partei MR hatte sich bis zuletzt gegen eine Beteiligung des CDH gewehrt, das am Dienstag schließlich den Gang in die Opposition ankündigte. MR befürchtet angesichts der »gemeinsamen Standpunkte« von PS und CDH auf sozialpolitischem Gebiet um seinen Wahlerfolg gebracht zu werden. Die PS drohte daraufhin, für eine Übergangslösung ebenfalls nicht zur Verfügung zu stehen, wenn Verhofstadt nicht einen weiteren Versuch unternähme, das CDH einzubinden. Für die Einigung sorgte schließlich das Angebot eines Ministerpostens für den CDH-Politiker Josly Biette, früher Generalsekretär des christlichen Gewerkschaftsbunds. Diesem Vorschlag Verhofstadts stimmten nach langem Überlegen erst MR und schließlich auch CDH zu.

Damit steht Belgien vor dem vorläufigen Abschluss der langwierigsten Regierungsbildung seiner Geschichte. Dass Verhofstadt Anfang der Woche von König Albert II. den ausdrücklichen Auftrag bekommen hatte, eine befristete Koalition zusammenzustellen und zu leiten, zeigt den Ernst der Situation. Angesichts sinkender Kaufkraft und steigender Energiepreise, wogegen 25 000 Gewerkschafter vergangenes Wochenende in Brüssel demonstriert hatten, ist es von großer symbolischer Bedeutung, nicht ohne neue Regierung ins neue Jahr zu gehen. Am Freitag bereits will Verhofstadt daher eine Regierungserklärung abgeben, zwei Tage darauf soll die Vereidigung im Parlament stattfinden.

Der ehemalige Premier Mark Eyskens (CD&V) hatte Anfang der Woche noch kritisiert, bei den jüngsten Verhandlungen stünden Posten statt Inhalte im Mittelpunkt. Wenn die Krise nicht bald gelöst würde, stellte sich die Bevölkerung gegen die Politik.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Dezember 2007


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