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Belgien in der Sackgasse

Wahlverlierer Guy Verhofstadt soll den Ausweg suchen

Von Tobias Müller, Amsterdam *

»Einigkeit macht stark«, ist die Devise des seit 1830 unabhängigen Königreichs Belgien. Derzeit sind die Belgier jedoch höchst uneins. Ein halbes Jahr nach den Parlamentswahlen hat sich noch keine neue Regierung gefunden. Nun soll ausgerechnet der Wahlverlierer den Streit schlichten.

Guy Verhofstadt, seit 1999 Chef einer sozialliberalen Regierung, erlitt bei den Wahlen am 10. Juni eine Niederlage. Umgehend trat er vom Vorsitz seiner Partei, der flämischen Liberalen, zurück und führte die Regierungsgeschäfte nur noch kommissarisch – in Erwartung seiner Ablösung durch den Wahlsieger, den flämischen Christdemokraten Yves Leterme, der zusammen mit den französischsprachigen Christdemokraten und den liberalen Parteien beider Sprachgruppen über die Mehrheit im Parlament verfügt. Leterme aber erklärte nach zwei Anläufen sein Scheitern. Worauf König Albert II. am Montag in seiner Not erneut Verhofstadt bat, »sehr kurzfristig« auszuloten, wie man aus der »politischen Sackgasse« kommen könne.

So traf sich Verhofstadt am Dienstag und Mittwoch mit den Vorsitzenden beider Parlamentskammern und den Parteichefs, um nach einem Ausweg aus der anhaltenden Krise zu suchen. Die so Angesprochenen zeigten sich denn auch bereit, erneut über die umstrittene Staatsreform zu verhandeln. Durch die Reform sollen die Regionen größere Eigenständigkeit erlangen. Diese Forderung kommt aus dem reichen Flandern. Die französischsprachigen Belgier in Wallonien, wirtschaftlich weniger gut situiert, fürchten jedoch das Ende der nationalen Solidarität und sehen sich in solchem Fall als die Verlierer. Vor allem die frankophonen Christdemokraten, eigentlich Letermes Verbündete, ließen sich bisher nicht zu einem Kompromiss bewegen.

Um der politischen Handlungsunfähigkeit Belgiens entgegenzuwirken, soll Verhofstadt aber auch für die Unterstützung seiner abgewählten Regierung im Parlament werben. Die beiden grünen Parteien haben ihre Kooperationsbereitschaft schon bekundet, damit zumindest ein sozialökonomisches Rumpfprogramm und der Haushalt für das Jahr 2008 verabschiedet werden können. Wegen der bislang fehlenden Mehrheit hatte Verhofstadts Partei VLD (Flämische Liberale und Demokraten) zunächst zurückhaltend auf diesen Vorschlag reagiert. Auch Verhofstadt selbst zögerte wegen des »deutlichen Urteils der Wähler« am 10. Juni, den Auftrag anzunehmen.

Umfragen zufolge sehen die Wähler ihn jedoch inzwischen als den am besten geeigneten Politiker, das Misstrauen zwischen den niederländischsprachigen Flamen und den Frankophonen zu überwinden. Dies nicht zuletzt, weil er als Flame auch unter den französischsprachigen Belgiern großes Ansehen genießt. Während flämische Nationalisten im Wahlkampf mit der Forderung nach der Unabhängigkeit Flanderns auf Stimmenfang gingen, vermied Verhofstadt populistische Parolen. So verlor er flämische Stimmen, gewann aber Ansehen unter Frankophonen. Nur können die Belgier nicht Parteien der jeweils anderen Sprachgemeinschaft wählen.

Verhofstadts Berufung zum Vermittler macht indes deutlich, dass sich die politischen Kräfteverhältnisse zu Gunsten der liberalen Parteien verschieben. In den gescheiterten Verhandlungen unter Federführung Yves Letermes hatten die VLD und deren wallonische Schwesternpartei Mouvement Réformateur (MR) bis zuletzt Kompromissbereitschaft bekundet. Ihre Gemeinsamkeit hebt sich deutlich von der Haltung der Christdemokraten ab, die sich in der Frage der Staatsreform konträr gegenüberstehen. Deshalb wird dieser Tage in Belgien vielfach spekuliert, dass der bisherige Vizepremier und Finanzminister Didier Reynders Verhofstadt als Regierungschef beerben könnte. Reynders, Vorsitzender des liberalen Mouvement Réformateur, wäre der erste belgische Premier aus dem französischsprachigen Landesteil seit Jahrzehnten.

Die flämischen Christdemokraten (CD&V) reagierten denn auch pikiert auf die Initiative des Königs, den populären Verhofstadt ins Rennen zu schicken. Dennoch kündigten sie an, »über die dringenden Fragen einzeln« mit ihm verhandeln zu wollen. Der Vorsitzende Jo Vandeurzen zeigte sich erleichtert darüber, dass auch Verhofstadt eine Staatsreform für notwendig erachtet. Die wallonische »Schwesterpartei« CDH indes bringt dem Alt-Premier zwar Vertauen entgegen, wehrt sich aber gegen den gemeinsamen Aufruf der beiden liberalen Parteien, nach einem Kompromiss zu suchen. Sie forderte die Kooperation »aller Frankophonen« und warf dem liberalen MR Verrat vor.

Ob und wann Verhofstadt mit seinen Vermittlungsversuchen Erfolg hat, steht in den Sternen. Einen Rekord verbuchen die Statistiker bereits: Noch nie in der 177-jährigen Geschichte Belgiens dauerte eine Regierungsbildung so lange.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Dezember 2007


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