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Konservative Rebellion

Am 11. Januar 1790 entstand erstmals ein belgischer Staat

Von Gerrit Hoekman *

1789/90 wehte der aufständische Geist der Französischen Revolution auch hinüber nach Belgien, das damals noch »Südliche« oder auch »Österreichische Niederlande« hieß und den Habsburgern gehörte. Angestachelt vom Pariser Volksaufstand schüttelten neun Provinzen die Herrschaft der Österreicher ab und riefen am 11. Januar 1790 die Verenigde Nederlandse Staten (französisch: États Belgiques Unis) aus. Das Staatsgebiet war im wesentlichen mit dem heutigen identisch, nur das Fürstbistum Lüttich und die Provinz Luxemburg gehörten noch nicht dazu. Die Souveränität währte allerdings nur kurz, nach weniger als einem Jahr war der erste belgische Staat bereits wieder Geschichte. Erst 1830 wurde Belgien endgültig unabhängig.

Der bewaffnete Aufstand gegen die Habsburger begann mit der Brabanter Revolution, als am 24. Oktober 1789 ein kleines Freiwilligenheer unter Oberst Jan Andries vander Mersch vom niederländischen Breda aus in die belgische Provinz Brabant marschierte. Am 27. Oktober zogen die Soldaten ohne Gegenwehr in Turnhout ein. Die völlig überraschte österreichische Armee rückte daraufhin mit rund 4.000 Mann gegen die Stadt vor.

Vander Mersch war klar, dass er mit seiner zusammengewürfelten Truppe im offenen Feld keine Chance gegen die Österreicher hatte und griff auf die Taktik des Guerillakampfes zurück: Er lockte den Gegner in die Stadt und verwickelte ihn in den engen Gassen in eine blutigen Straßenschlacht. Die Turnhouter unterstützten ihr Heer tatkräftig, berichtet die örtliche Chronik. Sie gruben auf dem Marktplatz Pflastersteine aus und bewarfen damit aus ihren Häusern herab die feindlichen Soldaten. Nach fünf Stunden harten Kampfes zogen die Österreicher schließlich geschlagen ab. In Windeseile verbreitete sich die Siegesnachricht im ganzen Land und verstärkte die Entschlossenheit der Belgier. Eine Stadt nach der anderen fiel.

Bündnis dreier Stände

Auch wenn der Aufstand in die Zeit der Französischen Revolution fällt, hatte er mit den aufklärerischen Zielen der Pariser Bewegung wenig gemein. Im Gegenteil: Er war in großen Teilen konservativ, eine Rebellion innerhalb des Feudalismus. Der belgische Adel, der Klerus und der dritte Stand sahen ihre Pfründe in Gefahr. Im Frieden von Utrecht war das Gebiet 1713 den Österreichern zugesprochen worden. Joseph II., in Personalunion auch Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, regierte seit 1780 mit strenger Hand aus dem fernen Wien. Widerspruch duldete er nicht. »Große Dinge müssen in einem Mal vollbracht werden«, fand der Monarch.

Am 11. Januar 1790 verkündeten die Aufständischen mit der »Akte van vereniging van de onafhankelijke Verenigde Nederlandse Staten« in Brüssel ihre souveräne, konföderale Republik.

Auch wenn der Aufstand in die Zeit der Französischen Revolution fällt, hatte er mit den aufklärerischen Zielen der Pariser Bewegung wenig gemein. Im Gegenteil: Er war in großen Teilen konservativ, eine Rebellion innerhalb des Feudalismus. Der belgische Adel, der Klerus und der dritte Stand sahen ihre Pfründe in Gefahr. Im Frieden von Utrecht war das Gebiet 1713 den Österreichern zugesprochen worden. Joseph II., in Personalunion auch Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, regierte seit 1780 mit strenger Hand aus dem fernen Wien. Widerspruch duldete er nicht. »Große Dinge müssen in einem Mal vollbracht werden«, fand der Monarch.

Der Kaiser verfolgte einen ehrgeizigen Plan: Er wollte sein Reich modernisieren und wirtschaftlich produktiver machen. Im katholischen Belgien bekamen Juden und Protestanten die vollen Bürgerrechte. Er lockerte die strengen Regeln der städtischen Gilden, die er als Hemmschuh der ökonomischen Entwicklung ausmachte. Neue Gesetze beschränkten die Ausbeutung der Bauern durch die Feudalherren. Die Dorfrichter, die oft vom lokalen Adel abhängig waren oder selbst dazugehörten, ersetzte der Kaiser durch staatliche Richter. Die Priesterausbildung durfte nur noch in einem staatlichen Seminar in Leuven stattfinden. Klöster mussten ihre Nützlichkeit nachweisen, sonst wurden sie geschlossen. Gegen all dies wuchs der Widerstand, auch gegen die zentralistische Politik der Österreicher. Die uralte Identität sei in Gefahr, rumorte es.

Rückeroberung durch Wien

Die Opposition gegen Joseph II. bestand aus zwei Lagern. Die Vonckisten versammelten sich um den Anwalt und reichen Bauernsohn Jan Frans Vonck. Sie waren von den Ideen der Französischen Revolution inspiriert und wollten die Macht der Feudalherren beschneiden und ihre Privilegien abschaffen. Im Untergrund bereiteten sie die bewaffnete Revolte gegen den Kaiser vor, dessen Reformen sie inhaltlich eigentlich zustimmten. Ihnen passte nur die arrogante Art nicht, mit der die Österreicher sie verordnet hatten. Voncks Gegenspieler Hendrik van der Noot wollte die Vorrechte von Adel und Klerus jedoch beibehalten. Er stellte in den Niederlanden jenes kleine Heer zusammen, das später in Turnhout die Österreicher schlagen sollte. Seine Anhänger nannten sich Statisten, weil sie sich für einen freien Staat einsetzten.

Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung gerieten die Kontrahenten aneinander. Adel, Klerus und Gilden hetzten gemeinsam gegen die Vonckisten. Am 17. März 1790 musste Vonck in Brüssel untertauchen, sein Haus wurde geplündert. Viele seiner Anhänger landeten entweder im Gefängnis oder flohen nach Frankreich. Vonck starb wenig später. Als die Truppen der Französischen Republik die Südlichen Niederlande 1794 eroberten, wurden seine politischen Ideen doch noch Realität.

Auch Kaiser Joseph II. erlebte das Ende des belgischen Aufstands nicht mehr; er segnete am 20. Februar das Zeitliche. Sein Nachfolger und Bruder Leopold II. eroberte das Land im Herbst 1790 ohne großen Widerstand zurück, eine belgische Provinz nach der anderen unterwarf sich. Bei ihrem Vormarsch entdeckten die Österreicher in der Zitadelle von Antwerpen übrigens Jan vander Mersche, den Helden von Turnhout. Seine alten Kampfgefährten um van der Noot hatten auch ihn bald nach dem Sieg verdrängt.

* Aus: junge Welt, Samstag, 10. Januar 2015


Die Glückliche Revolution

Von Gerrit Hoekman **

»Zwei Drittheile des Bodens im Hochstift Lüttich gehören der Geistlichkeit und diese Geistlichkeit ist von allen und jeden Abgaben fast ganz frei«, beschreibt der preußische Gesandte in Aachen, Christian Konrad Wilhelm von Dohm, die Besitzstrukturen im Fürstbistum Lüttich während des Absolutismus. In seinem 1790 in Berlin veröffentlichten Buch »Die Lütticher Revolution im Jahr 1789 und das Benehmen Sr. Königl. Majestät von Preussen bei derselben« lässt der Sohn eines Pastors die Ereignisse noch einmal Revue passieren, die als Lütticher Revolution bekannt sind.

Der Aufstand begann am 18. August 1789, als empörte Bürger das Rathaus von Lüttich stürmten und einen neuen Magistrat bestimmten. Fürstbischof Cesar Constantijn Franz van Hoensbroeck flüchtete Hals über Kopf nach Trier. Weil kein einziger Tropfen Blut floss, wurde die Rebellion auch die Glückliche Revolution genannt. Anders als bei der zeitgleich stattfindenden konservativen Brabantse Omwenteling, die schließlich in den ersten belgischen Staat mündete, bezogen sich viele Menschen in Lüttich auch inhaltlich auf die Französische Revolution. Der Sturm auf die Bastille in Paris am 14. Juli 1789 hatte sie ermuntert, ebenfalls aktiv zu werden. »Eine Republik wäre besser als alles das hier«, urteilte Jean-Nicolas Bassenge, einer der führenden Köpfe.

Lüttich gehörte damals zu den Zentren der frühen Industrialisierung. Die Arbeiter und Bauern ächzten unter der Steuerlast, die der Fürstbischof immer weiter erhöht hatte. Adel und Klerus waren jedoch von allen Abgaben befreit. Zu allem Übel brachte das Jahr 1789 auch noch eine Missernte, was die Preise für Lebensmittel, vor allem für Brot, in die Höhe trieb. Schon bald forderten die Aufständischen die Einführung der konstitutionellen Monarchie und den Anschluss an Frankreich.

Aus Trier hatte der Fürstbischof inzwischen das Heilige Römische Reich, zu dem Lüttich gehörte, zu Hilfe gerufen. Ende November marschierte daraufhin ein unter preußischem Kommando stehendes Herr in das Fürstbistum ein, machte aber vor den Stadttoren halt. Offenbar auf Geheiß des Gesandten von Dohm, den Preußen als Vermittler geschickt hatte und der dafür bekannt war, mit den aufklärerischen Zielen der Revolutionäre zu sympathisieren. Hartnäckig ignorierte dieser Gerüchte, die Aufständischen seien dabei, sich mit den Brabantern zu vereinigen. Nach einem halben Jahr zogen die Preußen unter dem Jubel der Lütticher wieder ab.

Die Freude währte jedoch nicht lange: Im Januar 1791 besetzten Truppen des mächtigen Österreichs im Rahmen von dessen Feldzug gegen die Vereinigten Belgischen Staaten Lüttich und brachten den Fürstbischof wieder in Amt und Würden. Die Anführer der Revolution wurden in den Kerker geworfen. Im November eilte ihnen das revolutionäre Frankreich zur Hilfe und Österreich wurde in der Schlacht bei Jemappes besiegt. Die französischen Soldaten zogen in Lüttich ein und gaben die Macht an die Revolutionäre zurück. Österreich gelang es noch einmal, die Stadt zurückzuerobern, doch im Juli 1794 fiel sie endgültig an die Franzosen.

** Aus: junge Welt, Samstag, 10. Januar 2015


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