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Von zehn Kandidaten sind neun ohne Chance

Die Unterstützung Russlands fehlt dem belarussischen Präsidenten diesmal allerdings

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Mit einem Wechsel im Präsidentenamt nach den Wahlen am Sonntag (19. Dez.) rechnen nicht einmal die neun Herausforderer des derzeitigen Amtsinhabers. Offen ist allenfalls, wie hoch die Mehrheit Lukaschenkos ausfällt.

Wahr ist, dass sich der seit 1994 amtierende Präsident seine Vollmachten wiederholt durch strittige Verfassungsänderungen verlängern lassen hat. Dass er auch Wahlergebnisse manipulieren ließ, gab Lukaschenko selbst zu: Statt der offiziell verkündeten 82,6 Prozent habe er 2006 über 90 Prozent der Stimmen erhalten, aber ein solches Ergebnis habe er dem Westen nicht präsentieren wollen.

Lukaschenkos Gegner kritisieren freilich Manipulation in anderer Richtung. Sein damaliger Herausforderer Alexander Milinkiewitsch, der im Westen gerne als Held einer Revolution in Jeansblau gesehen worden wäre, reklamiert für sich und den zweiten Oppositionskandidaten Alexander Kosulin 30 Prozent der Stimmen, räumt aber ein, dass er Lukaschenko unterlegen war. Dessen Beliebtheit erkläre sich dadurch, dass er eine »verhältnismäßig hohe soziale Stabilität im Lande bewahrt hat«.

Diesmal tritt Milinkiewitsch gar nicht erst an, weil sich die Opposition nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnte. Die neun Herausforderer sind wenig bekannt, lediglich dem Schriftsteller Wladimir Nekljajew, der für eine Bewegung »Sag die Wahrheit« antritt, wird eine gewisse Popularität bescheinigt. Die politische Streubreite der anderen Präsidentschaftsanwärter reicht von national-konservativ über christlich-demokratisch und national-liberal bis zu sozialdemokratisch. »Nicht jeder ist besser als Lukaschenko«, urteilt selbst Milinkiewitsch.

Eines fehlt dem Amtsinhaber diesmal: die Rückendeckung der russischen Führung. In Moskau hat man Lukaschenko nicht verziehen, dass er die Anerkennung Südossetiens und Abchasiens verweigert. Die aber wäre Voraussetzung dafür gewesen, dass Belarus russisches Öl und Gas weiter zu Freundschaftspreisen bezieht. Nicht zuletzt die preiswerten Importe hatten das »belarussische Wirtschaftswunder« und die soziale Stabilität gestützt. In Rage brachte die russische Führung überdies, dass Lukaschenko beste Kontakte zu Georgiens Staatschef Michail Saakaschwili und zu Ahmed Sakajew – dem Emissär der tschetschenischen Separatisten – unterhält. Und Kurmanbek Bakijew, der im April gestürzte Präsident Kirgistans, darf aus dem Minsker Exil sogar gegen die von Moskau unterstützte Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa hetzen.

Lange bevor der Wahlkampf in Minsk begann, erwogen russische Polittechnologen daher, einen Oppositionspolitiker als Alternative zu Lukaschenko zu unterstützen. Doch da frühzeitig klar wurde, dass die Opposition weder willens noch in der Lage sein würde, Rivalitäten und Gezänk zurückzustellen, wurde das Projekt begraben. Zumal auch Lukaschenkos Gegner Distanz zu Russland pflegen. Daher trat pünktlich zum Wahlkampfstart Plan B in Kraft: Dauerbeschuss durch russische Medien. Zuerst wurde Lukaschenko als Pate mafiaähnlicher Strukturen porträtiert, dann legte Staatssender RTR mit äußerst kritischer Wahlkampfberichterstattung nach, obwohl auch Russland von westlichen Auguren immer wieder unfairer Wahlkampf vorgehalten wird. Dabei lässt Lukaschenko seinen Gegnern diesmal erheblich mehr Freiraum als bei früheren Wahlen: Unterschriftensammlungen verliefen nahezu reibungslos, die Bewerber dürfen auf genehmigten Meetings um die Gunst der rund sieben Millionen Wahlberechtigten werben und bei Rededuellen im staatlichen Fernsehen sogar gegen Lukaschenko stänkern – in dessen Abwesenheit.

Auch damit will Lukaschenko dem Westen Verhandlungsbereitschaft signalisieren. Im Mai 2009 war Belarus bereits der »Östlichen Partnerschaft« beigetreten, mit der die EU die ehemaligen Sowjetrepubliken politisch wie wirtschaftlich enger an sich binden will. Außenminister Sergej Martynow hatte zuvor erklärt, Minsk fühle sich jetzt stark genug für eine Öffnung seines Marktes gegenüber dem Westen, dafür bedürfe es keiner »orange, blauen, samtenen oder anderer Revolutionen«. Noch ist indes nicht entschieden, ob Brüssel diese Öffnung mit Toleranz gegenüber Lukaschenkos autoritärer Herrschaft belohnt.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Dezember 2010


"Uns geht es gut, egal wer regiert"

In Belarus vor der Präsidentenwahl: Auf dem Lande hat Amtsinhaber Alexander Lukaschenko seine Hochburgen

Von Maya Kristin Schönfelder **


In Belarus finden am Sonntag (19. Dez.) Präsidentschaftswahlen statt. Kaum jemand zweifelt daran, dass der seit 1994 als Staatsoberhaupt fungierende Alexander Lukaschenko die Abstimmung auch diesmal gewinnt. Im Westen gilt Lukaschenko als »Europas letzter Diktator«. Im Lande selbst sind die Urteile längst nicht so eindeutig.

Rumms. Das Kreuz am Rückspiegel kracht gegen die Windschutzscheibe, als Natalja Saroka mit ihrem VW in die Kurve geht. »Ich habe auf einem Militärlaster Auto fahren gelernt«, erzählt die studierte Psychologin lachend. »Auf den Straßen von Belarus ist das Absolvieren einer kommunistischen Schule ein klarer Vorteil.«

Ansonsten kann die 30-Jährige dem »System«, wie sie es nennt, nicht viel abgewinnen. Ihre siebenjährige Tochter Edita hat sie deshalb an der polnischen Grundschule von Grodno (belarussisch Hrodna) angemeldet. »Dort gibt es keine kommunistische Ideologie, keine Pioniere, keinen Komsomol, man feiert Weihnachten und keinen Fahnenappell. Und sie lernt polnisch.«

»Karta Polaka« sichert manches Privileg

Grodno gehörte in der Zwischenkriegszeit bis 1939 zu Polen, noch immer sind 40 Prozent der Bevölkerung des Gebiets ethnische Polen, auch Natalja Saroka und ihre Familie gehören dazu. »Wenn ich in Belarus bin, sage ich, dass ich Polin bin. Im Ausland sage ich, ich bin Bürgerin von Belarus. Meine Heimat ist in Belarus, genauer gesagt im Bezirk Grodno. Ich bin Lokalpatriotin, nicht Patriotin meines Landes«, erzählt Natalja während einer Autofahrt aufs Land zu ihrer Mutter.

Die Vergangenheit der Region erweist sich heute in doppelter Hinsicht als Vorteil – wenn man das Glück hat, der richtigen Gruppe anzugehören. Seit 2007 können Bürger von Belarus, die ihre polnischen Wurzeln nachweisen und einen Sprachtest bestehen, beim polnischen Konsulat die sogenannte »Karta Polaka« beantragen. Damit erhalten sie auf Antrag ein Dauervisum für den Schengen-Raum sowie eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für Polen. Echte Privilegien in einem Land, in dem ein Visum für die Einmalreise in die EU 60 Euro kostet – die Hälfte einer durchschnittlichen Monatsrente.

Viele junge Polen aus Belarus nutzen zudem die Möglichkeit, in Polen kostenlos zu studieren. Auch Natalja Saroka machte davon Gebrauch. Derzeit promoviert sie in Warschau über Unternehmerinnen in Belarus. Eine Gruppe, zu der sie selbst gehört. Gemeinsam mit einer Geschäftspartnerin bietet sie Managerschulungen zu Verkaufsstrategien und Kundenbindung an. Ihr Geschäft läuft hervorragend, im Sommer konnte sie eine neue Mitarbeiterin einstellen. Natalja ist mit ihrem Leben zufrieden, denn sie hat gelernt, dem aus dem Weg zu gehen, was sie stört. »In Belarus kann man gut leben, wenn man Rentner ist. Und wenn man sich nicht für Politik interessiert.«

Den Präsidentenwahlen steht sie deshalb auch skeptisch gegenüber. Ein Umstand, der regelmäßig zu Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter führt. Alina Bogdewitsch lebt als pensionierte Gemeindeschwester im Städtchen Ostrino, eine knappe Autostunde östlich von Grodno. »Wir leben sehr gut in Belarus, wir sind sehr zufrieden mit unserem Präsidenten. Wir sind vor allem froh, dass es bei uns keinen Terror gibt wie anderswo.« Dass sie am 19. Dezember dem Amtsinhaber ihre Stimme geben wird, steht für die 54-Jährige fest. »Ich bin glücklich, dass bei uns Lukaschenko regiert, weil er von Beginn an die Armee auf Vordermann gebracht hat. Woanders werden die 18-Jährigen nach Afghanistan verfrachtet oder nach Tschetschenien. Bei uns nicht, alle können hier in Belarus ihren Wehrdienst ableisten, in der Nähe ihrer Heimatorte. Ihre Mütter müssen sich keine Sorgen machen, ob ihre Söhne zurückkehren.«

»Die einfachen Leute sind für Lukaschenko«

Auch die Nachbarn teilten ihre Ansichten, ist Alina Bogdewitsch überzeugt. »Bei uns in Belarus herrschen Ordnung und Sauberkeit. Das gefällt uns, und das haben wir dem Präsidenten zu verdanken.«

Dass Alexander Lukaschenko vor allem unter der Landbevölkerung auf eine breite Unterstützung bauen kann, sei auch der Tatsache geschuldet, dass die Renten regelmäßig gezahlt würden, »anders als in vielen unserer Nachbarländer«, betont sie. Allein in diesem Jahr seien sie zudem schon zweimal erhöht worden, lobt Alina, die seit vielen Jahren Nebenerwerbslandwirtschaft betreibt. Allein aus den Zahlungen für ihre Milchlieferungen an die Sammelstelle im Ort komme sie auf umgerechnet 100 Dollar im Monat. »Zusammen mit meiner Rente von 160 Dollar ist das ein gutes Auskommen auf dem Land. Ich kann sogar meinen Kindern unter die Arme greifen.«

Der Umstand, dass unter Lukaschenko die Landbewohner kostenlos Futter, Saatgetreide und Saatkartoffeln erhalten, ist für Alina Bogdewitsch ein doppelter Grund, zur Wahl zu gehen. »Die einfachen Leute sind alle für Lukaschenko«, sagt die Witwe, die vor allem die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion als entbehrungsreich erlebt hat. »Früher mussten wir in der Gegend herumfahren, um Kleinhandel zu treiben, oder auf den Feldern stoppeln, um irgendwie durchzukommen. Das macht heute niemand mehr, man kann in Belarus von seinem Einkommen leben.«

Nach Polen zieht es Alina deshalb nicht, gerade die Menschen in den Grenzregionen zu Belarus leben ihrer Ansicht nach schlechter als die in Ostrino. Die Möglichkeiten, die das Nachbarland der polnischstämmigen Bevölkerung von Belarus bietet, schätzt sie dennoch, wenngleich aus einem anderen Grund. »Die Karta Polaka ist für junge Leute eine gute Gelegenheit, sich die Welt anzuschauen und zu sehen, dass es in Belarus so schlecht nicht ist.«

»Hauptsache, es gibt keinen Krieg«

Auch Alinas jüngere Tochter Elena Barantschik, die an diesem Tag zusammen mit ihrer Schwester Natalja aus Grodno zu Besuch gekommen ist, kann sich vorstellen, in ferner Zukunft von ihren polnischen Wurzeln zu profitieren. »2035 fahre ich mit meinem Mann nach Miami«, sagt die 25-Jährige und lacht. Die OP-Assistentin hat in diesem Jahr geheiratet, »ziemlich spät«, wie sie findet. Jetzt ist sie dabei, mit ihrem Mann ihre vor kurzem auf Kredit gekaufte Einzimmerwohnung zu renovieren. Ihre Zukunftspläne sind handfest: »Zwei Kinder bekommen, ein Auto kaufen, ein Haus bauen und die Liebe dabei nicht verlieren.«

Politik spielt in Elenas Leben keine Rolle. »Für die Wahlen interessiere ich mich nicht besonders, ich habe mit meinem Alltag genug zu tun.« Dass sie Mitglied im Belarussischen Republikanischen Jugendverband ist, der dem Präsidenten nahe steht, ist ihr ein wenig unangenehm vor ihrer Schwester, die das Gespräch verfolgt. »Sie haben uns bearbeitet, da einzutreten...«, sagt sie, »wäre ich nicht eingetreten, hätte es Probleme gegeben. Was soll man machen, ich bin kein Mensch mit Prinzipien.«

Nur wenige Autominuten von Ostrino entfernt wohnen Alinas Eltern, Zuzanna und Andrzej Bosko. In ihrem Dorf abseits der Hauptstraße leben nur noch neun Menschen, alle »reine Polen«, wie der 78-jährige Andrzej anmerkt. Er spricht ein Kauderwelsch aus Russisch, Belarussisch und Polnisch. »Wir haben immer in Belarus gelebt und sind stolz darauf, Polen zu sein«, beschreibt die 73-jährige Zuzanna ihre Nationalität.

In dem Land, das heute Polen ist, sind die beiden Alten nie gewesen. Als die Sowjetunion noch existierte, gab es dazu keine Möglichkeit, später waren alle Verwandten auf der anderen Seite längst nicht mehr am Leben. Sprache und ihre Kultur haben sie jedoch bewahrt. »Früher war das schwierig, dass wir Polen waren, jetzt ist das für die Enkel ein Vorteil«, stellt Andrzej fest. Er ist besonders stolz darauf, dass seine Urenkelin Edita die polnische Schule besucht. Die politische Meinung seiner Enkelin Natalja teilt er aber nicht. »Bei uns kann man leben, wir haben einen guten Präsidenten, er lenkt das Land weise. Hauptsache es gibt keinen Krieg.«

Andrzej Bosko holt für seine Gäste ein Glas Blutwurst aus dem Keller, seine Frau brät Plinsen dazu – alles aus der eigenen Landwirtschaft, wie Andrzej stolz betont. Er habe immer als Bauer von seiner Hände Arbeit gelebt, im Kolchos war er nie. »Uns geht es so oder so gut, egal wer regiert. Wir haben genug zu essen, mehr brauchen wir nicht«, beendet Zuzanna das Thema und dreht die nächste Plinse um.

** Aus: Neues Deutschland, 18. Dezember 2010


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