"Fehler der Nachbarn vermeiden"
Belarus vor den Präsidentschaftswahlen am Sonntag: Das Land kommt besser durch die Wirtschaftskrise als andere osteuropäische Staaten. Ein Gespräch mit Andrei Giro *
Andrei Giro ist seit September 2009 Botschafter der Republik Belarus in Deutschland.
Belarus ist seit Mai 2009 zusammen mit Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien und der Ukraine Mitglied der Östlichen Partnerschaft der EU. Entwickeln sich die Beziehungen gut?
Jein. Einerseits haben wir das Angebot, uns der Östlichen Partnerschaft anzuschließen, gern angenommen. Die Partnerschaft hat andererseits drei Dimensionen: erstens die Beziehungen der jeweiligen Regierungen mit der EU, zweitens die parlamentarische Ebene, drittens die zivilgesellschaftliche. Auf der ersten Ebene bewegt sich viel, in der zweiten nichts, in der dritten nur bedingt etwas.
Gilt das auch für die anderen Staaten?
Ich kann für andere Staaten nicht sprechen. Für uns in Belarus ist es offensichtlich, daß die EU entweder noch nicht in der Lage ist, den Prozeß intensiv voranzutreiben, oder es nicht will. Die parlamentarischen Beziehungen sind nicht vorangekommen, ein vorgesehenes Gremium, das sogenannte EURONEST, kam nicht zustande, u.a. weil das Europaparlament die Abgeordneten aus Belarus nicht anerkennt und sie nicht einladen wollte. Die Parlamentspräsidenten aller sechs Partnerländer haben sich schriftlich an ihren Kollegen beim Europaparlament gewandt und die gleichberechtigte Einbeziehung der belarussischen Abgeordneten gefordert.
Auf der zivilgesellschaftlichen Ebene gab es bereits zwei Konferenzen, aber wir haben dabei Merkwürdiges erlebt: Bei der Auswahl von Nichtregierungsorganisationen, von NGO, hat man aus Belarus nur diejenigen eingeladen, die man kritisch oder oppositionell nennt. Das ganze Verfahren war nicht transparent.
Die Art der Beziehungen zwischen Ländern hängt immer auch von ihrer inneren Stabilität und Leistungsfähigkeit ab. Wie ist Belarus durch die Wirtschaftskrise gekommen?
Unser Land will die Fehler vermeiden, die einige Nachbarstaaten begangen haben, als sie mit einer Schocktherapie die Marktwirtschaft eingeführt haben. Wir wollen unser Wirtschaftssystem anpassen, reformieren, erneuern und, wenn es soweit ist, darf auch die »freie Marktwirtschaft« im klassischen Sinn die Oberhand gewinnen. Deshalb steht das Soziale bei uns mit im Zentrum der Regierungspolitik, die Bevölkerung darf nicht unter den Wirtschaftsreformen leiden. Wir wurden deswegen des öfteren vom Internationalen Währungsfonds und von der Weltbank kritisiert, die uns auch aus diesem Grund Kredite verweigerten.
Wir haben lange gezögert, die großen Staatsbetriebe in private Hände zu geben. Sie finanzieren große Sozialeinrichtungen. Das entlastet den Staat. In den letzten zehn bis zwölf Jahren haben wir die Großindustrie komplett modernisiert, allein aus Deutschland importieren wir für etwa eine Milliarde Dollar jährlich Ausrüstungen und Technologien. Jetzt sind wir dabei, den Privatisierungsprozeß abzuschließen. Derzeit geht es nur noch um die Großbetriebe.
Ist es richtig, daß der IWF bei der Ausreichung eines Kredits an Belarus gefordert hat, bis Ende 2010 eine bestimmte Zahl von Betrieben zu privatisieren?
Ich komme noch einmal auf die Krise zurück. Natürlich haben wir unter ihr gelitten, aber da unsere Wirtschaft nicht so stark im Weltmarkt integriert war, haben wir sie nicht derart drastisch zu spüren bekommen wie andere osteuropäische Staaten. Belarus schloß 2009 sogar mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ab, es waren nur 0,2 Prozent, aber es gab keine roten Zahlen. Allerdings war unser BIP in den Jahren zuvor um acht bis zehn Prozent gestiegen. In den ersten elf Monaten 2010 lag das Wachstum bei 7,2 Prozent. Im Krisenjahr 2009 kam der IWF und hat zum ersten Mal Kredite in Milliardenhöhe angeboten – zu wesentlich niedrigeren Zinsen als unsere russischen Partner. Mir ist aber nicht bekannt, daß das mit solchen Fristen verbunden war. Gefordert wurde, generell die Privatisierung zu gestatten, das haben wir erfüllt. Jetzt wurde in Medien gefragt: Warum stellt der IWF Belarus nicht die nächste Kreditrate bereit? Die Antwort ist einfach: Wir brauchen sie momentan nicht.
Auf der einen Seite schreitet die Integration von Belarus mit Rußland voran, auf der anderen Seite gibt es immer wieder Auseinandersetzungen und Polemik in den russischen Medien gegen Belarus. Wie paßt das zusammen?
Rußland ist und bleibt unser wichtigster Partner, die Wirtschaften unserer Länder sind aufs engste verbunden. Wir benötigen in Belarus nicht 100000 Traktoren im Jahr, aber die Führung der Sowjetunion hatte seinerzeit entschieden, in Minsk ein großes Werk zu bauen, mit Rohstoffen und Energie zu beliefern und den Absatz zu garantieren. Dasselbe gilt für die chemische Industrie, für die Erdölindustrie und anderes. Deswegen bleibt Rußland für uns der nächste und größte Markt. Dort sind unsere Produkte bekannt und kommen bei der Bevölkerung gut an. In Moskau oder St.Petersburg ist vieles aus dem Westen, kommen Sie aber in die Provinz und fragen nach dem besten Fernsehapparat, werden Sie oft hören: »Horizont« aus Minsk. Unsere Kühlschränke werden 20 Jahre alt – ohne Reparatur, und das gilt auch für anderes. Trotzdem versuchen wir, neue Märkte zu erschließen – im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika, in Lateinamerika, natürlich auch in der EU.
Hinzu kommt: Wir haben mit Rußland viel im Bildungs- und Gesundheitswesen harmonisiert. Wir möchten auf allen Gebieten gleiche Bedingungen, aber die Weltwirtschaftskrise hat die Karten neu gemischt. Wollte ein russischer Bauer früher einen Traktor aus Belarus kaufen, erhielt er dafür den gleichen günstigen Kredit wie für ein russisches Produkt. In der Krise hat die Regierung in Moskau aber veranlaßt, daß Kredite für belarussische Maschinen teurer wurden – mit den entsprechenden Folgen. Das widersprach den Verträgen, mußte geklärt werden. Und nun ist es wie in einer Familie: Je länger man zusammenlebt, desto höher kochen die Emotionen. Ähnliches ist leider bei den Öl- und Gaslieferungen passiert. Die Preise für Rußland wurden eingefroren, gleichzeitig sollten die für Belarus um zehn Prozent pro Jahr gesteigert werden. Es ist nicht unsere Schuld, daß die russische Gas- und Ölindustrie in private Hände geriet. Der Streit hat sich aber wieder beruhigt. Rußland kann nicht daran interessiert sein, Belarus als stabilen Partner zu verlieren.
2011 jährt sich die Katastrophe von Tschernobyl zum 25. Mal. Wie sehr belastet sie Belarus noch?
1986 war die Ära von Gorbatschow, von »Glasnost« und »Perestroika«. Für uns war und ist es ein Rätsel, warum er damals der Bevölkerung nicht die Wahrheit sagte, sondern erst nach Jahren, als schon viele Menschen gestorben waren. In Belarus wurden fast 100000 Familien umgesiedelt, die direkten wirtschaftlichen Verluste betragen schätzungsweise das 32fache des BIP von 1989. Die Sperrbezirke sind noch da, es gibt Zonen, in denen Obst und Gemüse nicht ohne weiteres angebaut werden dürfen, alle Erwachsenen werden jährlich medizinisch untersucht, die Kinder öfter. Das alles bedeutet eine zusätzliche Last für den Staat.
Am 19. Dezember finden Präsidentschaftswahlen in Belarus statt. Rechnen Sie wieder mit Einmischung von außen?
Es gab viele Spekulationen über diese Wahlen: Wird sich Rußland einmischen? Wird es große Änderungen in der Regierung geben? Präsident Alexander Lukaschenko hat erklärt, der Schlüssel liege in der Hand jedes Belarussen. Ich als Botschafter halte mich an die offizielle Auffassung der Bundesregierung, und das ist die der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE: Alle wollen, daß die Wahlen frei und demokratisch durchgeführt werden. Das ist auch unser Wunsch, und wir haben deswegen sofort nach Bekanntgabe des Wahldatums die OSZE zur Wahlbeobachtung eingeladen. Ein Problem innerhalb der OSZE ist aber: Es gibt keine gemeinsamen Standards für Wahlen, wie wir sie zum Beispiel verlangt haben. In ein Land wie Belarus werden so Hunderte Beobachter geschickt, zu den Bundestagswahlen in Deutschland nur etwa 15. Für uns ist es wichtig, daß die Wahlen in voller Übereinstimmung mit unserer Gesetzgebung und mit unseren internationalen Verpflichtungen durchgeführt werden. Und davon bin ich überzeugt.
Interview: Arnold Schölzel
* Aus: junge Welt, 17. Dezember 2010
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