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Gezerre um Weißrussland

Von Ella Taranowa *

Es ist keine geographische Entdeckung, wenn ich behaupte, dass im Zentrum Europas ein Land liegt, das besonders freundlich gegenüber Russland gesinnt ist.

Jeder Schüler beim Betrachten der Landkarte würde auf Anhieb dieses Land nennen können. Es handelt sich um Weißrussland. Doch nicht jeder Schüler würde genauso zügig antworten können, wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass im Zentrum Europas sich eine fast unberührte Insel in der europäischen Gemeinde erhalten hat. Übrigens, genauso hat Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko während eines Treffens mit russischen Journalisten sein Land bezeichnet. Dieses Land aber ist so, wie es ist, nur dank seines Präsidenten.

Wir neigen eigentlich fast immer dazu, zu behaupten, Lukaschenko sei ein unberechenbarer Politiker. Und das ohne Grund! Was das Verhältnis zwischen Minsk und Moskau betrifft, ist Lukaschenko viel konsequenter als jeder andere Politiker. Wahrscheinlich, weil er sich so fühlt, aber bestimmt, weil sich sein Volk so fühlt. Hier steht er hundertprozentig auf der Seite seines Volks.

Denn dieses Land ist nicht deswegen „eine Insel" in Europa geblieben, weil in dessen Städten bisweilen noch eine Lenin-Straße zu finden ist, und nicht deswegen, weil es in den Machtstrukturen noch Abteilungen gibt, die dazu da sind, die ideologischen Zustände zu kontrollieren, sondern weil hier die Staatsbetriebe noch ihre Standhaftigkeit behalten haben, wie die berühmte Brest-Festung.

Und dies nicht zuletzt dank Präsident Lukaschenko. Denn er verteidigt konsequent die einst gewählte Form der Wirtschaft. Auch wenn die massenhafte Privatisierung um den Wirtschaftstandort Weißrussland keinen Bogen gemacht hat, die Beamten weigern sich hier auf die Kontrolle über die Wirtschaft zu verzichten. Den ausländischen Investoren werden 25 Prozent des Kuchens versprochen - nicht mehr und nicht weniger! Für einen Prozentsatz wie diesen würden russische Multis wie Lukoil oder Rosneft sich nicht in Bewegung setzen, obwohl sie sein reges Interesse an den weißrussischen Raffinerien immer noch zeigen!

Es scheint aber so zu sein, dass die Russen hier keine besonderen Privilegien erhalten, und dies, obwohl der russische Botschafter in Minsk, Alexander Surikow, abermals bestätigte, dass diese Firmen die weißrussischen Betriebe mit Rohstoffen beliefern könnten, was sich positiv auf ihre Konkurrenzfähigkeit auswirken würde. Doch der ehemalige Chef der Nationalbank und der Chefideologe der Privatisierung in Weißrussland, Professor Stanislaw Bogdanowitsch, antwortete prompt, die Bevölkerung besitze einfach kein Geld, um sich an der Privatisierung zu beteiligen. Sollte sie so weiter wie bisher geführt werden, so riskiere das Volk, eine Arbeiterklasse für die russischen Oligarchen zu werden.

Doch die Weißrussen verspüren keinen Fremdenhass gegenüber den Russen, sogar die oppositionellen Kräfte vermeiden es, im Kampf gegen Lukaschenko auf die „antirussische Karte“ zu setzen. Obwohl im Grunde der Einfluss, den die Opposition auf die Bevölkerung ausüben kann, verschwindend klein erscheint. Im Oppositionslager ist es inzwischen still geworden, einige sind verschwunden, andere wiederum sind weit weg von hier. Die politischen Langlebigen wie Schuschkewitsch, Milinkewitsch oder der sich zu ihnen neulich gesellte Kosulin werden höchstwahrscheinlich keine Parlamentssitze erhalten.

Dass die Parlamentswahlen bald, genauer gesagt am 28. September, stattfinden werden - dies sieht man nur auf den Schildern an den Türen der Wahllokale. Internationale Experten sind der Ansicht, dass diesmal das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) mit hoher Wahrscheinlichkeit die Legitimität dieser Wahlen anerkennen wird müssen.

Der Westen ist inzwischen viel besser in Bezug auf Minsk zu sprechen. Vorige Woche haben die USA und die EU fast zeitgleich die gegen Minsk verhängten Sanktionen aufgehoben, denn sie haben einen formalen Vorwand bekommen - die Freilassung von politischen Gefangenen. Doch die eigentliche Ursache ist woanders versteckt worden. Die Gefangenen wurden bereits vor einem Monat freigelassen. Das ist sicher eine Belohnung gewesen dafür, dass Lukaschenko die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien nicht anerkannt hat.

Nicht wie seine lateinamerikanischen Mitstreiter, hat Lukaschenko die Position der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS)** übernommen, die auf ihrem letzten Gipfel lediglich eine rein deklarative Erklärung abgegeben hat. Übrigens, während einer Pressekonferenz für russische Journalisten hat er sich dann viel offener geäußert und gesagt, dass die Zeit kommen werde, da die Anerkennungsfrage in Weißrussland ebenfalls zur Sprache komme, möglicherweise im Parlament genauso wie in Russland. Wir können uns diesbezüglich nicht ins Schweigen hüllen, denn das wäre gegenüber Russland und Abchasien sowie gegenüber Südossetien nicht fair gewesen.

Lukaschenko hat weiter daran erinnert, dass, als bereits einige Jahre zuvor der georgische Präsident Michail Saakaschwili eine wirtschaftliche Blockade Abchasiens aufgeworfen hatte, gerade er es gewesen ist, der klipp und klar sagte, dass sein Land sich daran nicht beteiligen werde.

Auf meine Frage, ob er die OVKS immer noch als eine effiziente Struktur betrachtet, antwortete Alexander Grigorjewitsch ebenfalls eindeutig, dass die OVKS sich in eine vollwertige militärische Organisation verwandeln solle, um genau so wie die NATO zu agieren. Diese Organisation müsse wie die NATO in ihrem Vertrag einen Artikel haben, wenn ein OVKS-Staat Opfer einer Aggression werden sollte, die anderen Mitgliedsstaaten ihm militärischen Beistand leisten.

In Bezug auf die Stationierung des US-Raketen-Schildes in Europa sagte der weißrussische Präsident, er sei zusammen mit Russland bereit, auf seinem Territorium Flugabwehrstützpunkte zu stationieren. Rollende NATO-Panzer in Weißrussland sind für die Landbewohner nur in einem Alptraum vorstellbar. Im Gegensatz zu manchen Nachbarstaaten denkt hier niemand daran, möglicherweise Kontakte mit der Allianz zu knüpfen. Mit dem historischem Gedächtnis ist hier auch alles in bester Ordnung - die Nazis bleiben Nazis, niemand will sie aufs Podest stellen, die alten Helden bleiben dort, wo sie immer gewesen sind.

Jeden Gast aus Russland wird man immer an das Streben nach Integration erinnern. Es könnten nicht nur die Geschäftspartner, sondern auch einfache Leute im Hotel oder im Lebensmittelladen sein, die sagen, dass man hier sich mehr Integration mit Russland wünschen würde. Man darf sicher sein, dass diese Sympathie aufrichtig und fair ist, obwohl die Euphorie in Bezug auf einen gemeinsamen Staat allmählich abklingt, denn man kann einfach nicht ewig warten. Meinungsumfragen zeigen, dass die Zahl der Personen, die für einen gemeinsamen Staat sind, jedes Jahr geringer wird. Die Zahl derer aber, die für die Vertiefung der Beziehungen mit der EU sind, konstant bleibt.

Aber der Kampf um Weißrussland hat bereits begonnen - und dies wird ein langwieriger Kampf sein. Klar ist, dass Weißrussland keine Insel ist, sondern ein europäisches Land, dessen Kreditrating sich übrigens in einer Gruppe mit der Ukraine und Georgien befindet. Es bleibt zu hoffen, dass Minsk einen anderen Weg einschlagen und das Schicksal von Tiflis und Kiew nicht wiederholen wird.

Doch heutzutage kann nichts ausgeschlossen werden, der Westen weiß sehr gut, wie man die Löcher in die Schutzmauern bohrt? „Meine Freundschaft mit den Russen ist keine Ware", sagte Lukaschenko. Hier genießt er die volle Unterstützung des Volkes.

Doch Liebe fußt bekanntlich auf Gegenseitigkeit. Moskau wird unvermeidlich um Weißrussland kämpfen müssen. Die Waffen dafür sind vorhanden - es sind Energieressourcen und Investitionen. Kann sein, dass dabei alle Waffen zum Einsatz kommen werden, denn es lohnt sich, für einen zuverlässigen Verbündeten wie Minsk zu kämpfen.

Die Meinung der Verfasserin muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 12. September 2008;
http://de.rian.ru


** OVKS

Die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist eine am 7. Oktober 2002 in der moldauischen Hauptstadt Chişinău gegründete Internationale Organisation. Hervorgegangen ist sie aus einer mit dem Vertrag über kollektive Sicherheit (VKS) von 1992 begründeten Staatenkooperation.
Mitglieder der OVKS sind: Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Tadschikistan, Weißrussland, Usbekistan (1999 Vertrag nicht verlängert, Wiedereintritt im Juni 2006).
Zwei Staaten, Aserbeidschan und Georgien, waren ebenfalls Vertragspartner des VKS, haben diesen aber nach seinem Auslaufen im Jahr 1999 nicht verlängert.
Aufgabe des Bündnisses ist die Gewährleistung der Sicherheit, Souveränität und territorialen Integrität der Mitgliedstaaten. Dies soll vornehmlich durch eine enge Zusammenarbeit in der Außenpolitik, in militärischen Angelegenheiten, in der Erforschung neuer militärischer Technologien sowie in der Bekämpfung grenzübergreifender Bedrohungen durch Terroristen und Extremisten erreicht werden. Darüber hinaus hat sich die OVKS der Förderung einer demokratischen Weltordnung auf der Grundlage der allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts verschrieben.
Zum Tätigkeitsrepertoire zählen laut Wikipedia bisher insbesondere gemeinsame militärische Manöver der Mitgliedstaaten.

Quelle: Wikipedia; http://de.wikipedia.org




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