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Angriff oder Verteidigung

Streit um russisch-belarussisches Manöver. Polnische Rechtspresse sieht Übung als gegen Warschau gerichtet an

Von Reinhard Lauterbach, Nekielka *

Die Armeen von Belarus und Rußland veranstalten seit Freitag im Westen von Belarus und im Gebiet Kaliningrad das Großmanöver »Zapad [Westen] 2013«. An der einwöchigen Übung nehmen etwa 13000 Soldaten teil, außerdem etwa 70 Panzer und mehrere Dutzend Kampfflugzeuge und Hubschrauber. Sie findet wenige Wochen vor einem geplanten NATO-Manöver in den baltischen Staaten mit US-Beteiligung statt und hat in den angrenzenden osteuropäischen Nato-Staaten von Estland bis Polen nervöse Reaktionen hervorgerufen.

Das offizielle Manöverszenario geht aus von der Bekämpfung terroristischer Gruppierungen im westlichen Grenzgebiet von Belarus. Wie üblich wird kein Gegner beim Namen genannt; aber die baltischen Staaten und Polen fühlen sich offenbar angesprochen, und dies jeder auf seine Weise. Der estnische Präsident Toomas Ilves warf Rußland gegenüber einer schwedischen Zeitung vor, es übe den Überfall auf die baltischen Staaten; Polen und Litauen beschwerten sich offiziell nur über mangelnde Transparenz, weil die Veranstalter in Moskau und Minsk keine Beobachter aus den westlichen Nachbarstaaten eingeladen hätten. Die Tageszeitung Rzeczpospolita schreibt von »Manövern gegen Polen« und behauptet, es gehe in Wahrheit um die Unterdrückung eines Aufstands der polnischen Minderheit in Belarus.

Die Vorstellung eines zu unterdrückenden Aufstands der polnischen Minderheit in Belarus klingt zunächst absurd. In Belarus, vor allem in dem an der Grenze zu Polen und Litauen gelegenen Gebiet Grodno, leben seit Jahrhunderten auch Polen. Die polnische Minderheit ist nach der offiziellen Volkszählung von 2009 etwa 300000 Menschen stark und umfaßt damit rund drei Prozent der Bevölkerung des Landes; polnische Quellen geben teilweise weit höhere Zahlen von bis zu 1,2 Millionen Polen in Belarus an. Die Stärke der Minderheit ist seit dem Systemwechsel von 1989 stark rückläufig, und die Gruppe leidet an Überalterung. Hieran hat die polnische Regierung paradoxerweise keinen geringen Anteil, weil sie seit 2007 eine sogenannte »Polenkarte« an ausländische Bürger polnischer Nationalität ausgibt, so auch in Belarus. Diese Karte gewährt eine Reihe von Vorteilen in Polen, z.B. bevorzugte Einreise, Gleichstellung mit Inländern in Fragen wie dem Zugang zum Studium, zur Gesundheitsversorgung und zu anderen Sozialleistungen. Es ist so nicht sehr erstaunlich, daß vor allem junge Angehörige der polnischen Minderheit gern nach Polen ausreisen, dort studieren und oft auch nach dem Studium dort bleiben – was die Autoren des Gesetzes so nicht vorgesehen hatten.

Die Unterstützung, die alle polnischen Regierungen seit Mitte der 1990er Jahre ihren Landsleuten in Belarus geleistet haben, hatte nämlich mehr oder minder ausgesprochen auch einen politischen Zweck: die Minderheit als Opposition gegen den 1994 an die Macht gekommenen belarussischen Präsidenten Aleksander Lukaschenko in Stellung zu bringen. Lukaschenko gilt aus polnischer Perspektive als prorussisch und damit als geopolitische Bedrohung; es ist polnische Staatsräson, zwischen das eigene Land und Rußland einen Gürtel möglichst feindselig gegenüber Rußland eingestellter Staaten zu legen. Daher 2004 die starke Unterstützung der »orangen Revolution« in der Ukraine durch Polen; auch für Aktivitäten der gesamten Anti-Lukaschenko-Opposition fungieren Polen und Litauen als sicheres Hinterland mit Radiosendern, Privathochschulen, Bankverbindungen und dergleichen.

Für Warschau ist die Strategie, die Minderheit gegen Lukaschenko zu instrumentalisieren, in der Vergangenheit allerdings nicht aufgegangen. Der »Verband der Polen in Belarus«, in den 1990er Jahren gegründet, hat sich in den 2000er Jahren genau an der Frage gespalten, ob er die sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Minderheit vortragen oder sich mit der belarussischen Opposition gegen Lukaschenko zusammentun solle. Der Aufschrei der polnischen Rechtspresse angesichts der aktuellen Manöver macht indessen deutlich, daß die Träume von einer fünften Kolonne im östlichen Nachbarland nicht in allen polnischen Köpfen ausgeträumt sind.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 24. September 2013


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