"Das hier ist Lukaschenkos Werk"
Eine Erkundungstour in der belarussischen Provinz
Von Christian Schneider-Krawc *
Belarus gilt allgemein als die letzte Diktatur Europas, als deren Diktator Präsident Alexander
Lukaschenko. Nach dessen Wiederwahl zum Staatsoberhaupt im vergangenen Dezember erhoben
Tausende in Minsk den Vorwurf der Wahlfälschung, die Staatsmacht antwortete mit Verhaftungen,
die Justiz mit drakonischen Strafen. Die EU verhängte weitere Sanktionen gegen Minsk. Wie aber
leben und denken Belarussen auf dem »flachen Land«?
Widomlja ist ein Dorf mit 500 Einwohnern im Kreis Kamenez des Gebiets Brest, ganz im Westen von
Belarus, unweit des bekannten Urwaldgebietes von Belawesh. Vor zwei Jahren hatten dort acht
Familien neu erbaute Einfamilienhäuser bezogen – dieser Tage wird das 128. Häuschen mit
städtischem Komfort übergeben werden. Michail Strapko, Direktor des »Agrogorodok«
(Agrostädtchen) Widomlja, erläutert: »Die Häuser sind Eigentum des Kolchos.« (Der »Kolchos«
entfährt ihm offenbar aus alter Gewohnheit. »Agrogorodok« heißt der Nachfolger, die Mitglieder sind
heute Aktionäre.) »Bleibt der Bewohner zehn Jahre bei uns, gehört das Haus ihm. Wenn er nicht
mehr bei uns arbeitet, kann er das Haus zum Zeitwert kaufen oder als Mieter drin wohnen.«
Aktionäre denken nicht an Feierabend
Einfamilienhäuser werden aber auch privat gebaut. Mechanisator Dmitri hält eine Baugenehmigung
in den Händen. Wie lange dauert es vom Antrag bis zum fertigen Haus? »Zwei Wochen bis zur
Genehmigung, Einzug ein halbes oder ein Jahr später.« Haben Sie einen Kredit aufgenommen?
»Ja, 40 000 Dollar, die müssten in 40 Jahren zurückgezahlt sein, aber nach dem dritten Kind, es
wird bald da sein, brauche ich vom Kredit nichts zurückzuzahlen. Dann gehört das Haus mir –
meiner Familie.«
Befragt nach der Aufforderung des Präsidenten, mehr Privatunternehmungen zu gründen, antwortet
Direktor Strapko: »Ja, das hat er gesagt. Aber nur 2 Prozent der Ackerfläche von Widomlja werden
von Privatbauern bearbeitet. Einer hat sich mit 300 Hektar als Einzelbauer eingerichtet. Wir
unterstützen ihn. Doch das Interesse für Einzelbauernwirtschaften ist nicht groß. Unsere Leute
wollen lieber im Großbetrieb arbeiten, mit gesichertem Einkommen. Schauen Sie, jetzt ist es abends
halb acht! Auf den Feldern arbeiten die Traktoren. Als Aktionäre denken sie in der Saison nicht an
Feierabend. Sie wissen, es ist ihr Geld, was auf den Feldern heranwächst! Mein Ziel ist, unseren
Leuten mehr Geld zukommen zu lassen. Bei steigenden Düngemittel- und Treibstoffpreisen,
dringend notwendigen Technikkäufen ist das ein Problem.« Ansonsten beschäftige er sich nicht mit
hoher Politik. »Wir als Direktoren der Agrogorodoks sind dem Fachministerium unterstellt. Da zählt
nur Leistung.«
Und wie sieht es in Orten aus, in denen es keinen Strapko gibt? Da lacht er: In über 75 Prozent des
Territoriums habe sich die Lage grundlegend verbessert, seit 2005 Lukaschenkos Programm zur
Wiedergeburt des belarussischen Dorfes in Gestalt der Agrogorodoks verabschiedet wurde. »Ich
garantiere: Es gibt noch bessere, reichere Agrogorodoks als Widomlja.«
Tatsächlich sind die neuen Dörfer schon mit flüchtigem Blick links und rechts der Autobahn nach
Minsk zu sehen, daneben das alte Dorf der Holzblockchatas.
Neu sind auch die privaten Supermärkte und Marktketten, die meisten mit staatlicher Beteiligung.
Das Angebot unterscheidet sich in nichts von dem in Deutschland. Aber die Verkäuferinnen klagen:
»Die Leute haben zu wenig Geld. Nach der Abwertung nun noch spürbarer.« Im Mai war der
Belarussische Rubel offiziell um 50 Prozent abgewertet worden.
»Aber er ist zu lange im Amt«
Brest ist eine der komfortabelsten Städte des Landes. Das »Olympische Wassersportzentrum« hat
zwar noch keine Olympischen Spiele, wohl aber Welt- und Europameisterschaften erlebt. Über eine
halbe Milliarde Dollar hat es gekostet. Ein Trainer fährt mit Fahrrad und Megafon die Regattastrecke
entlang. »Das hier ist Lukaschenkos Werk. Aber er ist zu lange im Amt, fast 16 Jahre. Das System
muss bleiben, unbedingt, aber er muss weg, jetzt brauchen wir frischen Wind!« Was meint er mit
frischem Wind? »Mehr Demokratie.« Und was heißt das? »Wir müssen als Volk entscheiden
können, ob wir nach links oder nach rechts gehen. Bis jetzt sagt er ›geradeaus‹, und wir müssen alle
geradeaus gehen!« Die Mehrheit sei zwar immer noch für Lukaschenko, »aber die Zustimmung der
Jugend nimmt ab.«
Andrej, ein junger Mann, arbeitete als Hauptenergetiker in der Schweinemastanlage der OAO
(Offenen Aktiengesellschaft) Belaweshski – und schreibt mir, erst zögernd, dann doch entschieden,
Adresse und Telefonnummer auf. Von ihm höre ich, was andere halblaut sagen: Lukaschenko eigne
sich Reichtümer an! Im russischen Fernsehen sei vor den letzten Wahlen ein mehrteiliger Film zu
sehen gewesen. »Da wurde gezeigt, was er sich angeeignet hat. Er ist nicht ehrlich.« Andere
kommentieren besagten russischen Film mit den Worten: »Jetzt wollen sie ihn wohl auch von dieser
Seite weghaben.«
Und was soll sich ändern – nach Lukaschenko? Andrej wünscht sich: »Als erstes freie Wahlen.«
Zwar hätte er bei den Wahlen im vergangenen Dezember die Möglichkeit gehabt, gegen
Lukaschenko zu stimmen, »aber der hat die Meinungsmache in der Hand. Das Volk wird von ihm
beeinflusst.« Ich frage den jungen Mann, woran es ihm fehle, was er missen müsse. Er: »Eigentlich
nichts, es reicht. Aber ich muss jeden Tag nach Polen fahren und ein paar Liter Benzin verkaufen.
Sonst könnte ich mir kein Auto leisten.«
Zwischen Teichen und Biberburgen
Im Süden des Brester Gebiets, nahe der Grenze zur Ukraine, fließt der Pripjat, der ein großes
Sumpfgebiet bildet, eine der unwegsamsten Gegenden des Landes. Und dennoch: In jedem Dörflein
Auf- und Umbau, jede Bushaltestelle neu. Inmitten von Wasserläufen, Teichen und See, zwischen
von Bibern gefällten Bäumen entdecke ich jedoch eine Unterkunft, so ärmlich, wie man sie sich
kaum vorstellen kann. Aber die engen Räume sind bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft. Hier
wohnt die Familie Schwed. Nein, aus Deutschland kämen sie nicht, wie der Name vermuten lassen
könnte, auch nicht von der Wolga. Sie seien nach der Perestroika, weil ohne Arbeit, ohne Lohn,
ohne Brot, aus der Gegend von Gomel hierher in den Westen von Belarus geflohen. Er, ehemaliger
Matrose der Schwarzmeerflotte, bewache die Teiche. Tochter, Sohn und Mutter schimpfen: »Das ist
keine Arbeit, aber ihm reicht es.« Die Mutter geht 5 Kilometer durch den Wald und arbeitet als
Putzfrau in einer Schule. Der junge Schwed, 16 Jahre alt, erklärt auf Deutsch, warum gerade
Männer viel Wodka trinken. »Weil sie dann nichts arbeiten brauchen, überlassen dann alles den
Frauen.« In einem Brief, die Wörter hat er sich aus dem Wörterbuch gesucht, wird er später
schreiben: »Hier alles Volk für Lukaschenko. Er guter Organisator. Wenn er weg, dann Chaos wie in
Ukraine. Wir jetzt umziehen in Wohnblock der Geflügelfarm. Vater will nicht. Wir wollen.«
Seit Jahren schon bin ich mit einem Germanisten aus Minsk befreundet. Sonst ein zuversichtlicher,
optimistischer Mensch, erklärt er mir diesmal: Mit der Perestroika seien Millionen ins Nichts geraten,
vergleichbar mit den Nachkriegsjahren. Lukaschenko sei der Mann gewesen, der wieder Brot für alle
garantierte. Er sei der Erlöser gewesen. Das aber sei für die junge und jüngere Generation nicht
mehr so wichtig. »Sie wollen mehr, weiter …« Sie sähen für sich im heutigen Belarus keine
Möglichkeit, ihr Potenzial zu entwickeln, sie wollten Veränderungen.
»Starker Staat braucht selbstbewusste Bürger«
»Der Staat aber setzt vor allem auf Macht, Gehorsam und Angst«, bedauert mein Freund, der
Germanist. Er könne diese Taktik zwar verstehen, aber keinesfalls teilen, »weil aus meiner Sicht ein
starker Staat sich nur auf gebildete, mutige, selbstbewusste und national bewusste Bürger stützen
kann. Doch diejenigen werden gerade nicht besonders gefördert, eher umgekehrt.« Und dann: »Ich
glaube, unsere Regierung ist zu keinem normalen Dialog mit ihren Opponenten bereit. Es ist
natürlich sehr bedauerlich, besonders für mich...«
Im Brester Neubauviertel erlebe ich die Familie Tutuschnika beim Abschiedsfest. Der
Schwiegersohn wird nach Venezuela verabschiedet. Er ist Bauleiter auf einer Großbaustelle der
Ölindustrie. »Von Lukaschenko mit Chavez vereinbart! Lukaschenko sorgt für Arbeit. Gute Arbeit,
gutes Geld!« Die allgemeine Stimmung in der Familie: »Uns geht es nicht schlecht. Aber wie immer:
Überall dort geht es den Menschen besser, wo wir Belarussen nicht sind.« Wir einigen uns und
trinken darauf, dass es den Menschen überall gut ergehen soll – und uns nicht am schlechtesten!
* Aus: Neues Deutschland, 9. September 2011
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