Wir wollten Schriftsteller werden
Opposition in Belarus und was verfallene Hausflure und ein Schüler-Literatur-Club damit zu tun haben *
Olga Karatsch (30), ist Mitgründerin und Koordinatorin des Graswurzelnetzwerks »Unser Haus Belarus«. 2003 wurde sie als einzige oppositionelle Abgeordnete in den Stadtrat von Witebsk gewählt. Die Organisation setzt sich gegen Beamtenwillkür und politische Repression zur Wehr. Sie organisiert Bürgersprechstunden, Beschwerdeplattformen im Internet, Straßenaktionen, Unterschriftensammlungen, verteilt Zeitungen und monatlich über 100 000 Flugblätter. Inzwischen ist »Unser Haus« in 15 belarussischen Städten vertreten. Mit der Oppositionellen sprach in Berlin für das "neue deutschland" (nd) Ines Wallrodt.
nd: Gegen Sie läuft in Belarus ein Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung. Was haben Sie getan?
Karatsch: Ich habe nur ein paar Fragen gestellt. Einen Tag vor dem Terroranschlag am 11. April 2011 in Minsk hatte Präsident Alexander Lukaschenko im Fernsehen vor einem Anschlag gewarnt. Das war inzwischen schon das dritte Mal, dass er kurz vor Anschlägen Warnungen aussprach. Ich habe deshalb in einem Zeitungsinterview gefragt, warum er nichts getan hat, um es zu verhindern, wenn er doch offenbar davon wusste?
Sie leben deshalb seit ein paar Monaten im Ausland. Was hätte Ihnen gedroht, wenn Sie geblieben wären?
Das Regime kann jede beliebige Anklage konstruieren. Im April 2011 sind wir schon einmal unter dem Vorwand der Beteiligung am Terroranschlag festgenommen worden. Nur der schnelle, öffentliche Druck hat dazu geführt, dass dieser offensichtlich absurde Vorwurf fallengelassen und wir stattdessen durch andere polizeilicher Falschaussagen zu Geld- beziehungsweise bis zu 14-tägigen Haftstrafen verurteilt wurden.
Was muss sich Ihrer Meinung nach in Ihrem Land ändern?
Die Menschen sollen wirkliche Staatsbürgerrechte bekommen, so dass jeder Einfluss auf Gesellschaft und Regierung nehmen kann. Wir wollen Meinungsfreiheit, freie Wahlen, richtige Interessenvertretungen und echte politische und soziale Institutionen. Die Öffentlichkeit erfährt nichts über den Haushalt des Staates, Transparenz bei Ausgaben fehlt völlig. Vetternwirtschaft und Korruption sind in unserem Land ein großes Problem. Zum Beispiel kommt es ständig zu »schwarzen Privatisierungen«. Schöne Paläste werden für 1000 Euro verkauft, aber nur Offizielle, Staatsdiener können sie bekommen. Die gewöhnliche Bevölkerung ist ausgeschlossen.
Was tun Sie, um dieses System zu ändern?
Wir starteten als eine Art Mieterinitiative. Wir befragen die Bürger, beraten in Alltagsfragen. Die Behörden arbeiten äußerst schlampig, die Dächer der Wohnhäuser sind kaputt, die letzte Renovierung ist ewig her, es ist gefährlich, Treppen zu benutzen, so alt sind sie. Wir machen auf doppelte Standards aufmerksam: Wer seine Miete nicht bezahlt, verliert seine Wohnung; wenn die Regierung die Wohnungen nicht renoviert, passiert aber nichts. Wir helfen den Menschen sich zu beschweren, dann bitten wir die Bevölkerung um öffentliche Unterstützung und gehen notfalls auch vor Gericht. Nach mehreren gewonnenen Gerichtsverfahren werden zum Beispiel die Hausflure wieder gereinigt, nachdem sie ein Jahrzehnt lang dem Verfall überlassen worden waren. Außerdem läuft eine Kampagne, die sich an die Mitglieder der Stadträte richtet: »Abgeordneter Berichte!«. Die Antworten sollen im Internet veröffentlicht werden. Denn Parlamentssitzungen sind bei uns nicht öffentlich. Wir wissen überhaupt nicht, was die eigentlich tun. Nach großem Druck erhalten wir nun die ersten Berichte.
Klingt alles nicht sehr revolutionär. Warum rufen Sie nicht zum Sturz Lukaschenkos auf?
Auf direktem Wege können wir den Machtwechsel nicht erreichen. Wenn du eine Demokratie bilden willst, funktioniert das nicht ohne Staatsbürger. Dieses Bewusstsein existiert aber in unserer Gesellschaft kaum. Die meisten Menschen glauben, die Regierung ist für alles verantwortlich, für ihr Leben, ihr Geld, ihren Körper, ihre Wahl. Sie denken nicht in Kategorien von Bürger versus Staat.
Wie soll sich das durch Beschwerden über tropfende Wasserhähne ändern?
Wir wollen erreichen, dass sich die Menschen für ihre Rechte einsetzen und damit Erfolg gegenüber der allmächtig scheinenden Bürokratie erzielen. Auf die Hausflure folgten kommunalpolitische Fragen wie Bushaltestellen und öffentliche Toiletten, dann der Druck auf die »Abgeordneten«, jetzt wehren wir uns gegen Polizeiwillkür und erzielen auch dort Erfolge. Andersrum hätte es nicht funktioniert.
Das soziale Engagement ist also nur taktisch?
Nein und ja. Bei den Präsidentschaftswahlen 2001 haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Menschen anders reagieren, wenn man als Opposition auftritt. Dann bist du verantwortlich für deinen Sieg oder deinen Ärger mit Lukaschenko. Die Leute unterstützen uns vielleicht sogar, aber nur zu Hause vor dem Fernseher, wie bei einem Fußballspiel. Das ist keine richtige Beteiligung. Der größte Schock war damals, dass einige Mütter von jungen Aktivisten ihre Söhne und Töchter beim KGB anzeigten. Offenbar hatten wir etwas falsch gemacht, wenn die Menschen uns für Feinde halten. Deshalb haben wir unsere Strategie geändert.
Sind die Leute denn überhaupt unzufrieden mit Lukaschenko?
Aber ja. Am Anfang setzten viele Hoffnungen in ihn. Aber dieses Vertrauen hat er längst verspielt. Es gab immer wieder Proteste gegen ihn. Aber von verschiedenen Gruppen zu verschiedenen Zeiten. Und jetzt sind die Leute demotiviert. Unser Ansatz ist nun zu zeigen, wie sie in Kämpfen erfolgreich sein können, auch wenn es nur auf der lokalen Ebene ist. Wir brauchen Erfolgsbeispiele.
Was hat Sie denn so früh zu einer Oppositionellen gemacht?
Ein Schüler-Literatur-Club. Wir waren 17 oder 18 Jahre alt und wollten Schriftsteller werden. Wir hatten überhaupt nichts mit Politik im Sinn. Wir schrieben hauptsächlich über Liebe, was einen eben in diesem Alter interessiert. Aber trotzdem versuchte der Staat, unsere Treffen zu verbieten und unser kleines Literatur-Magazin zu stoppen.
Warum das?
Die Behörden wollten unser Denken unter Kontrolle haben. Überall in Belarus gibt es Ideologiebeauftragte, die dafür sorgen, dass du die richtige Meinung vertrittst. Wir hatten aber einfach eine unabhängige Gruppe gegründet. Man muss wissen, dass die Frage, wer der Eigentümer ist, in unserer Gesellschaft sehr wichtig ist. Wem gehören die Kinder? Den Eltern oder dem Staat? Wer entscheidet über Sex? Wem gehört dein Körper? Lukaschenko bezeichnet die Schönheit der belorussischen Frauen als strategisches Produkt, das genutzt werden müsse. Schönheitswettbewerbe sind bei uns staatlich. Schulen und Universitäten sind sogar verpflichtet, sich zu beteiligen!
Wie ging der Konflikt aus?
Wir mussten uns entscheiden: Wollen wir für uns, für unsere Kreativität selbst verantwortlich sein oder wollen wir ein Teil des Systems werden. Mir war klar, würde ich mich für das System entscheiden, könnte ich eine steile Karriere machen. Gehe ich meinen eigenen Weg, ist die Zukunft nicht so sicher. Aber wir fanden unsere Gefühle und Gedanken wichtiger und haben begonnen, unseren eigenen Weg zu suchen. Das ist oft nicht einfach. Aber es war die richtige Entscheidung.
Lukaschenko hält Sie für »Agenten des Westens«.
Das ist Quatsch. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Wer für die Renovierung eines Hauses kämpft, ist ein westlicher Spion. Aber was ist denn dann die Regierung, die sich nicht darum kümmert, weil sie kein Geld ausgeben will?
Aber Sie bekommen Finanzierung aus dem Ausland?
Die Regierung macht es uns unmöglich, Gelder in Belarus zu bekommen. Spendensammeln ist verboten. Wir dürfen kein Geld für unsere Rechtsberatung annehmen und unsere Zeitungen nicht verkaufen. Privatunternehmer die die Opposition offen unterstützten wurden finanziell ruiniert oder landeten sogar im Gefängnis. Manchmal bekommen wir Sachspenden, oder Aktive tragen ihre Kosten für die eigenen Aktionen. Für ausländische Hilfe haben wir klare Regeln. So nehmen wir keine Hilfe aus den USA an, weil uns dies in den Augen der Bevölkerung diskreditieren würde.
Die Orangene Revolution in der Ukraine wurde maßgeblich aus den USA finanziert. Linke in Deutschland sehen deshalb die Förderung von Opposition in nicht-westlichen Ländern recht kritisch. Sie sei ein Mittel, um nicht-genehme Regime loszuwerden.
Die Opposition in der Ukraine war auf das eine Ereignis, den Umsturz, ausgerichtet. Dort hieß es, lasst uns schnell das alte loswerden und etwas neues bekommen. Wir wollen den Systemwechsel von unten, als Basisbewegung erreichen: Die kritischen Fähigkeiten, die Menschen entwickeln müssen, um Lukaschenko auf demokratischem Wege loszuwerden, werden sie auch danach noch haben. Sie werden sie in jedem neuen System einbringen.
Vor einem Jahr begann der arabische Frühling. Wie sehen Sie die Zukunft von Belarus?
Unsere Zukunft ist von vielem abhängig. Entscheidend ist die Haltung Russlands, das unsere Regierung stützt. Mal abwarten, was jetzt nach den russischen Präsidentschaftswahlen passiert. In der letzten Zeit haben die Probleme für Oppositionsparteien und Zivilgesellschaft zugenommen. Neue Gesetze sollen den Nichtregierungssektor austrocknen. Aber auch wenn die Gesamtbedingungen nicht einfach sind, ist es andererseits auch leichter für uns geworden. Wir können einige Erfolge vorweisen. Zudem hat das repressive Vorgehen der Regierung gegen die Opposition die Bevölkerung sensibilisiert. Sie glauben der offiziellen Propaganda nicht mehr. Es gibt positive Veränderungen. Zur Zeit wird viel diskutiert, über Geschlechterbeziehungen, Religion, Medien, es gibt wilde Streiks in Betrieben. Diese Entwicklung wird nicht aufhören. Natürlich muss man immer weiter dafür kämpfen. Die Probleme sind nicht von einem auf den anderen Tag weg. Es wird immer neue geben. Aber eigentlich bin sehr optimistisch.
* Aus: neues deutschland, 14. März 2012
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