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Gaskonflikt Moskau-Minsk eskaliert

Russischer Konzern Gasprom drosselt Lieferungen um weitere 15 Prozent. Belarus stoppt Transit nach Westeuropa

Der Streit zwischen Rußland und der Republik Belarus eskalierte am Dienstag (22. Juni). Nachdem der russische Gasprom-Konzern die Lieferungen in das Nachbarland um weitere 15 auf nunmehr 70 Prozent der vereinbarten Menge drosselte, stellte der belorussische Präsident Alexander Lukaschenko während eines Treffens mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow in Minsk fest, daß sich der Konflikt »leider in einen Gaskrieg« auswachse. In Reaktion auf die russischen Kürzungen hatte Minsk zuvor angeordnet, den Transit von Gas nach Europa zu stoppen.

Rußland hatte seine Liefereinschränkungen für das Nachbarland mit nicht erfolgten Zahlungen begründet. Falls Belarus die noch offenen Rechnungen - die Rede war von 192 Millionen US-Dollar - nicht begleiche, sei eine Drosselung um 85 Prozent möglich, drohte Gasprom-Vorstandschef Alexej Miller. Bisher, so Miller am Dienstag in Moskau, habe Belarus »keine Schritte zur Tilgung« der Schulden unternommen. Minsk habe zwar um zwei Wochen Aufschub gebeten, um das Geld aufzutreiben, doch werde Gasprom »aber sicher nicht« solange warten, wurde erklärt. Eine angebotene Zahlung in Naturalien wies der Konzern erbost zurück.

Lukaschenko erklärte am Dienstag, nicht Belarus sei Schuldner, sondern Rußland habe Transitgebühren für das Weiterleiten des Brennstoffs in Richtung Westen nicht bezahlt. Somit seien es die Russen, die die Verträge nicht eingehalten hätten, sagte Lukaschenko. Die Anordnung, die Pipelineverbindung nach Westeuropa zu unterbrechen, gelte, solange Gasprom »nicht den Transit bezahlt«.

Die EU-Kommission in Brüssel forderte beide Staaten auf, ihren »vertraglichen Verpflichtungen« nachzukommen. Rußland liefert etwa ein Viertel des in der EU verbrauchten Erdgases. Über belorussisches Gebiet laufen etwa zehn bis 20 Prozent der Menge. Nach Angaben aus Brüssel könnte Rußland bei einem Transitstopp Gas über die Ukraine umleiten. Dies sei vertraglich vereinbart. (AFP/jW)

* Aus: junge Welt, 23. Juni 2010


Gasstreit mit Lukaschenko: Das launische Chamäleon

Von Dmitri Babitsch **

Hat der Konflikt zwischen Russland und Weißrussland um Gazprom-Gas eine internationale Tragweite?

Nach Angaben des russischen Außenministers Sergej Lawrow fällt der Konflikt nicht in seinen Kompetenzbereich. Deswegen müssten sich damit die Energiekonzerne der beiden Staaten befassen.

Andererseits kam Gazprom-Chef Alexej Miller der Forderung des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew nach: Er verkündete, dass die Gaslieferungen nach Weißrussland ab dem 21. Juni um Punkt 10 Uhr um zehn Prozent verringert werden. Laut Medwedew muss Weißrussland innerhalb von fünf Tagen die Gasschulden in Höhe von 192 Millionen US-Dollar für das in diesem Jahr gelieferte Gas begleichen. Am 19. Juni trat Miller erneut als Staatsvertreter und nicht als Konzernchef auf und sagte, der Präsident habe alles gesagt und Gazprom würde demnach handeln.

Beim Gaskonflikt handelt es sich also zugleich um einen privaten und einen staatlichen Streit. Dies ist der Streit zwischen zwei Wirtschaftssubjekten, wobei sich beide Seiten aus unbestimmten Gründen nach den Entscheidungen ihrer Staatschefs richten. Wie jeder Wirtschaftsexperte weiß, führen solche Konflikte zu nichts Gutem. Das liegt daran, dass diese Konflikte in einer „Grauzone" zwischen Politik und Wirtschaft stattfinden, wo Gesetze wegen der Willkür einiger Personen nichts bewirken können.

Dieses ineffiziente Regelungsverfahren wurde nicht von Moskau gewählt. In Russland gibt es sehr viele Privatunternehmen (darunter auch sehr große), die selbstständig im Ausland tätig sind. Sie machen Gewinne oder Verluste abhängig von ihrer eigenen Effizienz und der weltweiten Konjunktur. Was soll man jedoch machen, wenn sich am anderen Ende des Rohres ein Land befindet, wo die Wirtschaft tatsächlich von einer einzigen Person geführt wird, der alle Fäden in seiner Hand halten will. Um welche Spielregeln kann es sich handeln, wenn der Partner diese Regeln selbst bestimmt und deswegen alles gewinnt, darunter auch die Präsidentenwahlen seit 1994?

In dieser Situation muss Russland den Konflikt zwischen den Wirtschaftssubjekten auf staatlicher Ebene lösen. Dennoch stellt sich dabei eine Frage: Mit wem verhandelt Russland?

Bei den Beziehungen zu Russland ist der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko nicht nur ein doppelköpfiger Janus, sondern Proteus, ein Meister der Verwandlung (Gott aus der griechischen Mythologie). Wenn es sich um einen Kredit von Russland oder der EU handelt, profiliert er sich als das Oberhaupt eines absolut unabhängigen souveränen Staats, der dieses Geld nach eigenem Ermessen verteilen kann.

Wenn es sich um die Preise für russisches Gas und Öl handelt, verwandelt sich Lukaschenko in ein Mitglied der Zollunion und der Staatsunion mit Russland, das Recht auf zollfreie Gas- und Öllieferungen zu russischen Inlandspreisen habe. Falls es sich um die Verpflichtungen Weißrusslands in den oben genannten Bündnissen handelt, tritt Lukaschenko als ein zurückhaltender Diplomat und Chef eines unabhängigen Staates auf, der den zentralasiatischen Staaten beim Bau der Wasserkraftwerke nicht helfen will (es hatte solche Projekte in der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft gegeben). Wenn er die Schuld für die Probleme im eigenen Land auf Russland abwälzen will, das dem Bruderstaat die Hilfe verweigere, verschwindet urplötzlich der diplomatische Ton.

„In der Tat arbeitet die weißrussische Wirtschaft für die russische Wirtschaft. Man soll uns nicht erzählen, dass wir auf fremde Kosten leben wollen! Wir bringen Russland großen Nutzen - von Produktionsbereichen bis zur Rüstungsindustrie... Man darf sich nicht so mit Weißrussland verhalten: Für die anderen werden die Preise gesenkt oder festgesetzt und für uns werden sie angehoben. Russland und Gazprom werden sich daran nicht bereichern. Dennoch können sie viel verlieren", zitiert die weißrussische Nachrichtenagentur Belta den weißrussischen Präsidenten.

Das ist bei weitem keine Diplomatensprache. Bei genauerer Betrachtung ist dieser Propaganda-Trick unter richtigen Politikern verboten - nicht die ganze Wahrheit zu sagen, die Situation zu vereinfachen und in einem günstigen Licht darzustellen.

Russland senkt den Gaspreis für die EU-Länder nicht, weil es sauer auf Weißrussland ist. Die Gaspreise für die EU sind derzeit einfach um ein mehrfaches höher als für Weißrussland. Diese Differenz muss verkleinert werden. Deshalb hob Russland Anfang dieses Jahres den Gaspreis für Minsk von 150 auf 174 US-Dollar an. Zugleich senkt Russland die Preise für das für die EU bestimmte Gas, wo die Gaspreise wegen der Wirtschaftskrise fallen.

Seit Januar tut Lukaschenko so, als ob er nichts von einer Erhöhung der Gaspreise wisse. Jetzt spricht er von einem Verrat hinter dem Rücken der Unionsstaates. Minsk hatte bereits im vergangenen Jahr milliardenschwere Kredite von Moskau bekommen und war nicht in der Lage, 192 Millionen US-Dollar zurückzuzahlen.

Bei früheren Preiserhöhungen (2005, 2008) verhielt sich Lukaschenko auf die gleiche Weise. Zuerst gab es keine Reaktionen auf die Preiserhöhung. Dann folgte eine lautstarke Empörung. Zugleich wird ein Spiel um den Verkauf der Aktien des weißrussischen Gasversorgers Beltransgas an den russischen Energieriesen Gazprom geführt.

Die Zahlen ändern sich regelmäßig: Der Preis variiert von 2,5 Milliarden bis fünf Milliarden US-Dollar. Zuerst handelte es sich um 50 Prozent der Aktien, dann um 49 Prozent, dann 50 Prozent minus eine Aktie. Lukaschenko verfolgte einzig und allein ein Ziel: Kredite und subventioniertes Gas vom Partner gegen Gespräche über die „slawische Einheit" zu bekommen.

Die slawische Einheit des weißrussischen und des russischen Volks ist kein Mythos und kein Phantom. Man sollte jedoch nicht damit hochtrabend ein unehrliches politisches Spiel bemänteln. Laut den von Lukaschenko unterzeichneten Dokumenten sollte die Einheitswährung bereits 2005 eingeführt werden. Zudem sollte ein Verfassungsakt zur Abschaffung der Barrieren zwischen beiden Ländern abgeschlossen werden. Alles verlief im Sande. Dennoch spricht Lukaschenko fast wöchentlich über das Recht Weißrusslands auf subventioniertes Gas und Öl.

Es wird allmählich klar, dass die autoritäre Leitung des Staats früher oder später negative Auswirkungen auf die Wirtschaft haben wird, wobei das Vertrauen der Partner verloren und die wirtschaftliche Situation unberechenbar wird. Wenn es möglich ist, mit gezinkten Karten bei den Wahlen zu spielen, warum sollen sie dann nicht bei den Gasverhandlungen eingesetzt werden?

Die Konzeption zivilisierter Demokratieregeln zwischen Russland und Weißrussland ist eine wichtige Aufgabe. Das System der „manuellen Steuerung" in der Politik und der Wirtschaft muss allmählich der Vergangenheit angehören.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 22. Juni 2010; http://de.rian.ru



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