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"Nirgendwo wird weniger Lohn gezahlt"

Unsägliche Zustände in der Textilindustrie von Bangladesch - Lidl und andere profitieren. Gespräch mit Niema Movassat

Niema Movassat ist Bundestagsabgeordneter für die Fraktion Die Linke und Mitglied im Ausschuß für wirtschaftliche Zu­sammenarbeit und Entwicklung.



Ausbeuterische Arbeitsbedingungen von Textilfabriken in Bangladesch, die KiK, Lidl, H&M und Co. beliefern, gehen hierzulande seit Tagen durch die Presse. Sie sind im Rahmen der Entwicklungsarbeit für sechs Tage nach Bangladesch gereist - ist die Kritik bis dorthin durchgedrungen?

Folge der deutschen Berichterstattung war zunächst: Wir erhielten keine Erlaubnis, eines der kritisierten Werke überhaupt zu besuchen. Man hat Angst vor weiterer negativer Publicity: Deutsche Unternehmen könnten aus Image-Gründen ihre Vertragsbeziehungen beenden und bangladeschische Unternehmen in die Pleite treiben. Das Vorzeigewerk Viyellatex Tongi, nahe Dhaka, das man uns schließlich gezeigt hat, hat mit fast 95 Prozent der Textilfabriken in Bangladesch wenig gemein: Die Löhne sind höher, die Überstunden werden bezahlt, es gibt kostenloses Mittagessen, Kinderbetreuung, medizinische Versorgung, Transport zum Arbeitsplatz hin und zurück.

Hatten Sie Gelegenheit, sich mit Gewerkschaftern auszutauschen?

Ja, ein Gewerkschafter der »National Garment Workers Federation« und der Arbeitsforscher Khorshed Alam, der unter anderem die Methoden bei KiK aufgedeckt hat, redeten Tacheles: Hungerlöhne; unbezahlte Überstunden; sexuelle Belästigung von Arbeiterinnen; grundlose Kündigungen; keine Arbeitsverträge und somit keine Rechtsbasis, auf welcher geklagt werden kann. Ausbeutung gibt es, seit es Textilindustrie in Bangladesch gibt - also seit mehr als 20 Jahren. Vor Ort bestätigte man uns: Nirgendwo auf der Welt wird im Textilbereich weniger Lohn gezahlt als in diesem asiatischen Land.

Wie wird Druck ausgeübt?

In Bangladesch leben 160 Millionen Menschen, etwa drei Millionen arbeiten in der Textilindustrie. Wer nicht bereit ist, für einen niedrigen Lohn zu arbeiten, wird entlassen. Es gilt »Friß oder stirb« - die Angst vor Arbeitslosigkeit ist groß. Nach offiziellen Statistiken ist die Quote zwar gering, doch tatsächlich liegt sie bei 40 Prozent. Es gibt kein Sozialsystem; das macht es einfach, niedrige Löhne zu zahlen. Nur in 152 von 4500 Firmen gibt es Betriebsräte - deren Gründung wird von Arbeitgebern meist rigoros unterbunden. Einheimische Manager sagen, man müsse die Löhne immer weiter senken, um Aufträge von KiK, Lidl und H&M zu ergattern.

Gewerkschafter hingegen beklagen sich darüber, daß deutsche Unternehmen von sozialer Verantwortung fabulieren, während sie die Preise brutal drücken. Der sogenannte »Code of Conduct« ist nichts als eine PR-Kampagne für Deutschland - deshalb begrüße ich, daß die Verbraucherzentrale Hamburg Klage gegen Lidl eingereicht hat. Das Unternehmen soll nicht weiter behaupten dürfen, sozial verträglich zu produzieren - und so die Kundschaft über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen bei seinen Zulieferern hinwegtäuschen.

Wie bekämpfen Gewerkschaften die Ausbeutung?

Sie sind schwach und zersplittert - Arbeitgeber sind gegen Gewerkschaftsgründungen. Von rund 50 Organisationen arbeiten nur zehn in einer Art Dachgewerkschaft zusammen. Arbeiter haben keine Ansprechpartner, was in Betrieben oft zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und spontanen Streiks führt.

Wie verhält sich die Regierung?

Nach Auskunft von Gewerkschaftern sind die Arbeitsgesetze schwach - würden sie wenigstens angewendet, wäre das schon als Fortschritt zu bezeichnen. Aber: Die sozialdemokratische Regierungspartei Awami League, die mit der Socialist Party koaliert, setzt kaum etwas durch. Zum Beispiel gibt es nur 50 staatliche Kontrolleure, die ein Auge auf die 4500 großen Textilfabriken haben. Hinzu kommt, daß das Parlament wohl kaum motiviert ist, etwas zu ändern: 29 Abgeordnete sind selbst Besitzer von Textilunternehmen!

Hilft den Näherinnen die öffentliche Debatte hierzulande?

Der Manager des Vorzeigewerkes, das wir besucht haben, sagte mir: Würden europäische Verbraucher den Druck auf die Discounter erhöhen, könnten die Löhne in Bangladesch steigen.

Meine Partei wird jedenfalls den Dialog mit den Gewerkschaften in Bangladesch fortsetzen, Ende April wird der Arbeitsforscher Alam nach Deutschland kommen. Wir diskutieren jetzt, in welcher Form wir Druck auf die deutschen Discounter ausüben können.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, 14. April 2010


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