Hunger als Dauerzustand
Bevölkerungswachstum, Naturkatastrophen, kaum bezahlte Arbeit: Millionen Einwohner Bangladeschs leiden unter Mangelernährung
Von Thomas Berger *
Naturkatastrophen, extreme Wetterunbilden, die globale Wirtschaftskrise
und lokale Probleme in Kombination führen dazu, daß immer mehr Einwohner
Bangladeschs über lange Zeiträume hinweg unter Mangelernährung leiden.
Eine im Vorjahr durchgeführte Erhebung der nationalen Statistikbehörde,
deren Daten inzwischen ausgewertet sind, spricht von rund 40 Prozent der
Gesamtbevölkerung des südasiatischen Landes, die auf die Frage nach
Nahrungssicherheit eine negative Antwort gegeben hatten. Für mehr als
vier Fünftel davon ist dies schon ein Dauerzustand, der über etliche
Jahre anhält. Das Bild aus den 14000 Haushalten, die als repräsentativ
ausgewählt wurden, läßt sich sehr wohl auf die gesamte Nation
hochrechnen. Sowohl in den ländlichen Gebieten wie auch in den
Metropolen Dhaka und Chittagong wissen immer weniger Menschen, wie sie
mit extrem geringen Einkünften über die Runden kommen sollen. 54 Prozent
der Befragten sprachen explizit davon, daß sie an vielen Tagen hungern.
Quazi Shahabuddin, früherer Direktor des Bangladesh Institute for
Development Studies, macht vor allem die allgemeine Wirtschaftslage als
Ursache aus. »Fehlendes ökonomisches Wachstum ist der Hauptgrund für
mangelnde Ernährung«, glaubt er. Die Menschen hätten einfach nicht das
Geld, aus dem durchaus vorhandenen Angebot an Nahrungsmitteln
ausreichend kaufen zu können, so der erfahrene Forscher. Seit 20 Jahren
hat sich das Problem immer weiter verschärft. 47 Millionen Menschen, die
Hunger leiden, hatte das Welternährungsprogramm (WFP) 1990 im Land
erfaßt. Nach 56 Millionen (2005) liegt diese Zahl den Angaben der
UN-Behörde zufolge inzwischen bei mindestens 65 Millionen Personen. Den
letzten Schub sollen unter anderem die Überflutungen nach dem schweren
Zyklon Sidr ausgelöst haben, der 2007 enorme Verwüstungen anrichtete.
Bangladesch, ein souveräner Staat, der 1971 nach einem Krieg mit
indischer Hilfe von Pakistan abgespalten wurde, hatte seit Anbeginn
stets Probleme mit seiner Überbevölkerung. Mittlerweile hat das Land
etwa 160 Millionen Einwohner. Zwei Millionen Menschen kommen pro Jahr
dazu, das ist eine der höchsten Wachstumsraten auf dem Subkontinent.
Zudem weist Bangladesch die höchste Bevölkerungsdichte der Region auf
und rangiert dabei sogar weltweit mit an der Spitze. Im Zuge einer zwar
langsam, aber dennoch sichtbaren Modernisierung, haben gerade immer mehr
junge Leute Probleme, eine Arbeit zu finden. Die offizielle
Arbeitslosenrate ist zwischen 2006 und 2009 von 4,2 auf 5,1 Prozent
gestiegen, das sind etwa 2,7 Millionen Menschen. Diese
regierungsamtliche Statistik ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Noch
einmal die gleiche bis doppelte Zahl muß als Tagelöhner mit prekären
Beschäftigungsverhältnissen eingestuft werden. Diese Menschen verfügen
nicht über regelmäßig gesicherte Einkünfte, sondern hangeln sich von
einem Kurzzeit-Job zum nächsten. Und was ein »regulärer« Job bringt,
machen aktuell die Streiks der Textilarbeiter deutlich: Die Regierung
will unter dem Druck von Dauerstreiks den Mindestlohn von derzeit 1700
auf 3000 Taka erhöhen - das wäre eine Steigerung von umgerechnet 19 auf
34 Euro. Im Monat. Die Gewerkschaften verlangen 5000 Taka.
Der obengenannten Studie zufolge kommt ein Drittel der Menschen im
erwerbsfähigen Alter nur mit Darlehen über die Runden, die entweder aus
dem Verwandtenkreis oder über andere Quellen - dann teilweise zu
überhöhten Zinsen - gewährt werden. Steigende Nahrungsmittelpreise
tragen erheblich zur Verschärfung der Lage bei. Insbesondere das
Grundnahrungsmittel Reis war im März gegenüber dem Vergleichsmonat 2009
um 17,8 Prozent teurer geworden. Ein Anstieg, den sich viele Familien
nicht leisten können und deshalb den Verbrauch notgedrungen reduzieren.
Im Klartext heißt das hungern.
In der Umfrage hatten 36,8 Prozent der Armen und extrem Armen angegeben,
daß ihre Lage zuvorderst auf dem Fehlen einer Arbeit beruhe, die
ausreichend Einkommen bringen. 60 Prozent verwiesen auf fehlendes
Eigentum an Land. Flächen in den ländlichen Gebieten sind inzwischen so
klein, daß sie nicht mehr zwischen Kindern aufgeteilt werden, und immer
mehr Menschen haben durch Überschwemmungen ihre Äcker dauerhaft
verloren. Nahezu jedes Jahr stehen Millionen Bangladeschis nach
Flutkatastrophen vor dem Nichts. Zudem ist, wie Experten betonen, der
landwirtschaftlich nutzbare Boden oft schon zu ausgelaugt, um noch
ordentliche Erträge zu bringen.
Alarmierend sind die Auswirkungen dieser Entwicklungen, wie sie unter
anderem das WFP deutlich macht. Mindestens sieben Millionen Kinder bis
fünf Jahren gelten als untergewichtig. Drei Millionen davon bescheinigt
die UN-Agentur akute Mangelernährung. Schon bei der Geburt kommen in
Bangladesch viele Babys mit deutlich weniger als Normalgewicht auf die
Welt - neben dem benachbarten Indien hält das Land in der weltweiten
Statistik dabei einen fragwürdigen Spitzenplatz. Der sogenannte »stille
Hunger«, also nicht ausreichende Ernährung, betreffe 30 Millionen Frauen
und zwölf Millionen Kinder unter fünf Jahren. Eisenmangel und ähnliche
Erscheinungen sorgen zum Teil für Krankheiten, die sich mit
fortschreitendem Alter ausbilden oder verfestigen.
Nicht zuletzt ist Hunger ein Entwicklungshemmnis der besonderen Art:
John Aylieff, der Landesdirektor des WFP, schätzt, daß das
Bruttoinlandsprodukt des Landes durch die Folgen der Mangelernährung um
bis zu umgerechnet vier Milliarden Dollar pro Jahr geringer ausfällt.
Ein schneller Ausweg aus der Dauerkrise ist nicht in Sicht, eher im
Gegenteil. Setzen sich Bevölkerungswachstum und Klimawandel in gleicher
Weise wie bisher fort, haben Experten bis 2050 einen Fall der
Reisproduktion um 80 Millionen Tonnen errechnet - einen jährlichen
Rückgang um 3,9 Prozent für immer mehr Menschen, die sich ernähren müssen.
* Aus: junge Welt, 3. August 2010
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