Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Bangladesch am Scheideweg

20 Tote bei Protesten nach Hinrichtung eines Islamistenführers. Opposition will Regierungschefin stürzen

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Bei einem sogenannten Streik der Islamisten in Bangladesch sind am Sonntag acht Menschen ums Leben gekommen. Lokalen Zeitungsberichten zufolge stieg die Zahl der Todesopfer seit der Hinrichtung des Führers der Partei Jamaat-e-Islami (JeI), Abdul Kader Mullah, am Donnerstag damit auf 20. Anhänger der JeI und ihrer Studentenorganisa­tion Chhatra Shibir reagierten mit Ausschreitungen auf die Vollstreckung des Todesurteils. Der 65 Jahre alte Mullah war wegen Verbrechen im Befreiungskampf von 1971 trotz der Proteste der UNO, der USA, der EU, der Organisation Amnesty International und anderer Menschenrechtsgruppen in der Hauptstadt Dhaka gehängt worden.

Bei Straßenkämpfen der Protestierenden mit der Polizei und Sympathisanten der regierenden Awami-Liga wurden Hunderte Bürger verletzt. Über 100 Autos und Busse gingen in Flammen auf. Geschäfte, Bahnhöfe, Tankstellen, Banken und Wohnhäuser wurden demoliert. Die Islamisten hatten schon Tage vor der Hinrichtung mit einem Bürgerkrieg gedroht. Premierministerin Hasina Wajed kündigte am Samstag energische Maßnahmen an. »Wir haben genug Geduld geübt. Mehr werden wir nicht tolerieren«, drohte sie. Am 16. Dezember 1971 hatte das damalige Ostpakistan unter Führung von Sheikh Mujibur Rahman seine Unabhängigkeit vom »Mutterland« erklärt und die Volksrepublik Bangladesch proklamiert. Die bengalischen Freiheitskämpfer »Mukti Bahini« hatten mit massiver Unterstützung der indischen Armee die 90000 Mann starke Soldateska Pakistans besiegt. Drei Millionen Menschen kamen in diesem Krieg ums Leben, zehn Millionen flüchteten ins Nachbarland Indien.

Mullah spielte in dieser Zeit eine unrühmliche Rolle als Kollaborateur mit den pakistanischen Besatzern. Wie ein 2010 installiertes sogenanntes Internationales Kriegsverbrechertribunal in Dhaka feststellte, beteiligte er sich an Massakern unter Zivilisten, an Vergewaltigungen und an anderen Verbrechen. Der »Schlächter von Mirpur« soll seiner Familie zum Abschied gesagt haben, er sei »stolz, ein Märtyrer für die Sache der islamischen Bewegung zu sein«. Das Tribunal hat bislang zehn Angeklagte verurteilt, acht davon zum Tode. Mullahs Hinrichtung, die von Anhängern der Awami-Liga und ehemaligen Freiheitskämpfern öffentlich gefeiert wurde, war die erste.

Mit der Vollstreckung des Urteils ist die Regierung in Dhaka ein hohes Risiko eingegangen, denn die ohnehin turbulente Lage kann sich damit weiter zuspitzen. Ein Eingreifen der Armee ist nicht ausgeschlossen. Seit November taumelt das Land von einem politisch motivierten Streik in den anderen, in der Regel begleitet von Blockaden der Straßen, der Schienen- und Wasserwege sowie von Gewaltausbrüchen. Dabei wurden inzwischen über 60 Menschen getötet.

Eine aus 18 Parteien bestehende oppositionelle Allianz, in der die Bangladesh Nationalist Party die Hauptrolle spielt und zu der auch die JeI gehört, fordert den Rücktritt von Regierungschefin Wajed. Diese hat eine »Allparteien-Interimsregierung« gebildet, der aber fast nur Mitglieder ihrer Awami-Liga angehören. Die Opposition verweigert ihre Mitarbeit in dem Gremium und verlangt eine neutrale Nicht-Parteien-Regierung aus Bürokraten und Technokraten, die bis zu den Parlamentswahlen im kommenden Januar die Geschäfte führen soll. Bei in den vergangenen Tagen angebahnten Gesprächen beharren beide Seiten aber bislang stur auf ihren Positionen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 17. Dezember 2013


Zurück zur Bangladesch-Seite

Zurück zur Homepage