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Österreichs Junge für ein altes Ideal

Forderung: "Bildung statt Ausbildung"

Von Hannes Hofbauer, Wien *

Bereits die dritte Woche harren österreichische Studierende im größten Hörsaal des Landes aus, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen: »Bildung statt Ausbildung« und »Nein zu Bologna« lauten die Kurzformeln einer Bewegung, die Österreichs Innenpolitik in die Pflicht nimmt.

Besetzungen von Hörsälen, Demonstrationen mit weit über 10 000 Teilnehmern, Aktionen der Solidarisierung mit den in Tarifverhandlungen steckenden Metallarbeitern und den Kindergärtnerinnen... Ausgehend von der studentischen Unzufriedenheit mit der Verschulung des Universitätsbetriebs und mangelnder Betreuung weht ein Wind der Aufmüpfigkeit durch das herbstliche Österreich.

Spontan hat sich aus einer kleinen Demonstration, vorbei an den offiziellen Studentenvertretungen, eine Besetzerbewegung gebildet, die für kurze Zeit auch schon die Räume des Wissenschaftsministeriums einnahm. Über 50 Arbeitskreise allein an der Wiener Hauptuniversität, darunter eine klaglos funktionierende Betreuung der Medien, eine »Volxküche« sowie Ansätze eines eigenen Vorlesungsbetriebs zeugen von hohem Organisationsgrad. Traditionelle linke Studentengruppen spielen darin so gut wie keine Rolle, auch allgemeine gesellschaftspolitische Fragestellungen werden tunlichst vermieden, solange sie nicht den Bildungsbereich betreffen.

»Bildung statt Ausbildung«, auf diese Kernbotschaft haben sich die Studierenden als Überschrift ihrer oftmals umformulierten Forderungskataloge geeinigt. Gemeint ist die Zurückweisung des von der Europäischen Union seit 1999 vorgegebenen sogenannten Bologna-Prozesses, der von Hochschulen und Universitäten ausdrücklich eine »Arbeitsmarktfähigkeit« durch entsprechende Ausbildung fordert. Die neue Studentengeneration sieht dadurch das alte Ideal universeller Bildung in Gefahr, das in dem an der Uni Wien angebrachten Spruch »Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei« zum Ausdruck kommt.

Im Visier der Protestierenden ist vor allem das Bachelor-Studium nach angelsächsischem Vorbild, das eine »Qualifizierung für den Beruf« sein soll. Dem stellen die Studierenden ein »Recht auf Bildung« gegenüber, ohne das ein mündiger Bürger undenkbar sei.

Die Politik reagiert unterschiedlich auf den Protest. Wissenschaftsminister Johannes Hahn von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), dessen Universitätsabschluss vor Jahren wegen des Verdachts einer plagiierten Dissertation ins Gerede gekommen war, tritt die Flucht nach Brüssel an, wo er demnächst seinen Dienst als EU-Kommissar für Noch-nichts-Genaues-weiß-man-nicht antreten wird. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) hat nach einer Schreckwoche erkannt, dass die Proteste für seine Partei gegen den Koalitionspartner ÖVP auszunutzen sind. Seine verbale Unterstützung für die Anliegen der Studierenden ergänzt er durch die völlig entgegengesetzte Ansicht, dass eine Zugangsbeschränkung für Universitäten demnächst unabwendbar sein wird. Die Grünen haben für diese Woche eine Sondersitzung des Nationalrats verlangt, die sich mit »einer Lösung der unhaltbaren Zustände an den Universitäten« beschäftigen soll. Innerhalb des Plenums der Audimax-Besetzer ist derweil eine Debatte darüber entbrannt, ob die Einleitung eines Bildungsvolksbegehrens der Sache dienlich ist oder nicht.

Dass die Untragbarkeit übervoller Leersäle in vielen Fächern auch mit der Flut deutscher Studenten zu tun hat, die in Österreich studieren, weil sie daheim der Numerus Clausus daran hindert, dieses heiße Eisen wurde bislang von der Studentenbewegung nicht angefasst. Brüssel war es nämlich, das die Zugangsbeschränkung deutscher Studenten für Österreichs Universitäten aufgehoben hat, weil damit angeblich eine Diskriminierung vorläge. In Österreich existiert kein Numerus Clausus, was diese Art von Öffnung für deutsche Studenten erzwungen hat. Es wäre eine Ironie der Geschichte, würden ausgerechnet die österreichischen Studentenproteste nach deren Abklingen dazu beitragen, Zugangsbeschränkungen einzuführen.

* Aus: Neues Deutschland, 10. November 2009


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