Österreich gibt sich eine neue Sicherheitsdoktrin
Abschied von der "immerwährenden Neutralität" auf Raten
Die österreichische Regierung hat am Dienstag, den 23. Januar 2001
die Weichen für eine völlig neue Sicherheits- und Verteidigungspolitik gelegt.
Sie nahm zustimmend Kenntnis von einem "zeitgemässen Konzept", das Sachverständige in den letzten Monaten im Auftrag des schwarz-braunen Kabinetts in Wien ausgearbeitet haben. Die neue Doktrin tritt an die Stelle des
"Landesverteidigungsplans" ersetzen, der in den
siebziger Jahre verabschiedet worden war und damit nach Auffassung der Regierung seit langem obsolet sei. Eine moderne Sicherheitspolitik orientiere sich nicht mehr primär an einer allgemeinen militärischen Bedrohung, sondern ziele darauf ab, deren Entstehung zu verhindern. Sicherheit in Europa sei ein Zustand "relativer Unverwundbarkeit", der im besten Fall durch vorbeugende Massnahmen (Prävention) gewährleistet sei.
Da im Zuge der Globalisierung Instabilität heute über grosse Distanzen hinweg auftreten und auf Europa zurückwirken kann, seien gerade kleinere Länder gut beraten, Sicherheitspolitik "grossräumig" zu begreifen. Um präventive
Stabilisierungs- oder Gewaltmaßnahmen ergreifen zu können, müsse
man in der Regel multilateral vorgehen. Österreich ist trotz seiner garantierten «immerwährenden Neutralität» der Europäischen Union (EU) ohne Vorbehalte beigetreten. In der Tat hat Wien - nicht erst die jetzige, auch die Vorgänger-Regierung aus SPÖ-ÖVP - seither alle verteidigungspolitischen Schritte der EU
mitgemacht. Dies lief unter der beschönigenden Floskel von der "Weiterentwicklung" der Neutralität. Bundeskanzler Schüssel (ÖVP) wurde vor kurzem noch deutlicher, als er sagte, für Neutralität dürfe innerhalb der EU "kein Platz" mehr sein. Die Parole lautet: "Solidarität statt Neutralität". Davon unberührt bleibe aber die "Bündnisfreiheit".
Doch selbst dies soll nach Auffassung der Experten und Berater der Wiener Regierung nicht das letzte Wort sein. Auch die Bündnisfreiheit steht zur Disposition. In dem Expertenpapier heißt es (auf Seite 67): "Ob Österreich in der Folge bündnisfrei bleiben oder einem Verteidigungsbündnis beitreten möchte, bleibt dann einer weiteren Entscheidung vorbehalten." Für die Opposition ist die der klare Hinweis darauf, dass die Regierung mittelfristig auf eine Nato-Mitgliedschaft orientiere. Ohne Mitwirkung der SPÖ kann die Regierung das Neutralitätsgesetz nicht abschaffen, da es dazu einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit im
Parlament bedarf.
Quelle: Süddeutsche Zeitung und Neue Zürcher Zeitung vom 24. Januar 2001
Den nachfolgenden grundlegenden Artikel, der eine friedensorientierte Darstellung der Auseinandersetzung um die österreichische Neutralität gibt, hat uns die österreichische Friedensbewegung zugeschickt. Der Artikel wurde vor der Verkündigung der skandalösen neuen Sicherheitsdoktrin der Regierung geschrieben (Redaktionsschluss: 15.01.01), ist aber dadurch noch aktueller geworden. Der Artikel ist in der lesenswerten Zeitschrift "KRITICHISCHES CHRISTENTUM" der Aktion Kritisches Christentum, Nr. 244, Jänner 2001, erschienen. (Kontakt zur Zeitschrift: Adalbert Krims, e-mail: krims@aon.at). Wenn in Österreich vom "schwarz-blauen" Kabinett die Rede ist, meint das die gegenwärtige ÖVP-FPÖ-Regierung, die man
trotz Persilschein der "Drei Weisen" mit Fug und Recht auch "schwarz-braun" nennen kann.
Die Europäische Union auf dem Weg zur militärischen Supermacht?
Von Alois Reisenbichler
Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien hat die Bestrebungen in der Europäischen
Union verstärkt, die gemeinsame "Verteidigungspolitik" der EU
voranzutreiben. 1997 hatte sich Großbritannien gegen die Verschmelzung von
EU und WEU ausgesprochen, nach dem NATO-Krieg wurde auf dem Gipfel in Köln
diese beschlossen und ist nach der formellen Auflösung des
westeuropäischen Militärbündnisses nun bereits vollzogen. Die schnelle
Eingreiftruppe ist im Aufbau, die detaillierten Pläne werden bereits
umgesetzt und österreich ist mit 2000 Mann dabei, Österreich ist nun auch
Vollmitglied der Westeuropäischen Rüstungsgruppe.
Gemeinsame Verteidigung
Was ist Verteidigung? Wenn mich jemand angreift und ich mich dagegen wehre,
ist das Verteidigung. Das gleiche gilt zwischen zwei Staaten: ein Staat
überfällt einen anderen und dieser ist gezwungen, sich gegen den Angriff zu
verteidigen. Bei der Debatte um die gemeinsame Verteidigung der
Europäischen Union müsste es nach diesem Verständnis darum gehen, ob die
EU-Staaten den Schutz ihrer Grenzen mit gemeinsamen Einrichtungen und
eventüll einer gemeinsamen Armee organisieren. In diesen Fall würde es
sich um die - im übrigen von der Bundesregierung des neutralen österreich
vehement geforderten - "Beistandspflicht" handeln, die aus der EU einen
Militärblock macht und daher mit der Neutralität unvereinbar ist. Ein
solcher Militärblock birgt die Gefahr eines neuerlichen Wettrüstens, weil
ja die anderen ebenfalls zu ihrer Verteidigung rüsten, usw. Friede durch
Abrüstung, soziale Entwicklung und internationale Zusammenarbeit wäre
damit noch weiter entfernt.
Bei der "Verteidigungspolitik" der Europäischen Union geht es jedoch nicht
in erster Linie um die Verteidigung des eigenen Territoriums, sondern um die
Fähigkeit, mit militärischen Mitteln jederzeit und (fast) überall auf dem
Globus eingreifen zu können. Dazu braucht die EU eigene Satelliten, damit
sie nicht von den Satellitenbildern der USA abhängig ist, viele
Transportflugzeuge, um Truppen und Waffen möglichst schnell verlegen zu
können, usw.
Ein Beispiel für die Umrüstung in Richtung Interventionsarmee ist die
Deutsche Bundeswehr, die einerseits ihre Truppe bis 2004 von rund 315.000
Soldaten auf 282.000 reduziert, aber andererseits "qualitativ" aufrüstet.
Das Spektrum reicht von der Entwicklung eines Airbus zum Stückpreis von 200
Mio. DM, den Ausbau der Luftbetankbarkeit der Transportflugzeuge (damit sie
ohne Landung Lasten schneller und weiter transportieren) über neue
Marschflugkörper und lasergelenkte Bomben für die Luftwaffe bis (gemeinsam
mit den anderen europäischen Staaten entwickelten) neuen Satelliten. "Die
Schätzungen für die Gesamtkosten (Beschaffung und Forschung, Entwicklung
und Erprobung) belaufen sich zwischen 2001 und 2015 auf mindestens 210
Milliarden DM. Dies setzt jährliche Investitionen von 14 Milliarden DM in
Tötungsgerät voraus. Im Jahr 2000 liegt diese Summe noch bei rund 10
Milliarden DM." (Friedens-Memorandum 2001, hrsgg. vom Bundesausschuss Friedensratschlag, erscheint im Frühjar 2001).
Es ist nicht schwer auszumalen, wenn die Umrüstung der Armeen der
EU-Länder in eine gemeinsame Interventionsarmee verwirklicht werden sollte,
wieviel Milliarden Euro in die Aufrüstung gesteckt werden.
Krieg für Menschenrechte?
Dabei wäre der NATO-Krieg gegen Jugoslawien das beste Beispiel dafür, daß
mit militärischen Interventionen kein einziges Problem gelöst, im
Gegenteil durch die Intervention die großen Vertreibungen erst ausgelöst
wurden. Das behaupten nicht nur FriedensaktivistInnen, sondern zum Beispiel
auch der ehemalige General Heinz Loquai, der als deutscher Vertreter bei der
OSZE arbeitete (siehe dazu auch das Buch von Heinz Loquai: Der
Kosovo-Konflikt, Wege in einen vermeidbaren Krieg. Nomos-Verlag 2000).
Die aktülle Debatte um die tödlichen Folgen der Uran ummantelten Geschosse
zeigt, daß entgegen der millionenfachen Beteuerung der NATO Militärs ihnen
die Gesundheit der "eigenen" Soldaten egal ist. Es braucht kein großes
medizinisches Fachwissen, um zur Erkenntnis zu kommen, daß solche Waffen
alle jene gefährden, die mit ihnen zu tun haben. Beschönigende
Fachgutachten werden das nicht aus der Welt reden können. Es offenbart sich
aber selbst bei vielen KritikerInnen in den NATO-Ländern, die jetzt den
Einsatz dieser Waffen auf Grund der Gefährdung der
NATO-Soldaten/Soldatinnen ablehnen, das Inhumane in ihrem Denken. Alle reden
von den "eigenen" Leuten, niemand denkt an die Tausenden Menschen in diesen
Regionen, die durch die einschlagenden Bomben direkt verletzt oder getötet
wurden oder an die Hunderttausenden, ja Millionen Menschen, und deren
Nachkommen, die in einer durch den Krieg vergifteten Umwelt leben müssen.
Gerade jene, die eine Militärintervention "zum Schutz der Menschenrechte"
gefordert haben, müssen jetzt endlich erkennen, dass durch Krieg kein
einziges Problem gelöst wurde, sondern die Zivilbevölkerung aller
Nationalitäten den bitteren Preis für diesen Krieg bezahlen muss.
Es geht aber bei der Aufrüstung für jederzeit durchführbare Interventionen
nicht wirklich um Menschenrechte, es geht um politische Macht und
wirtschaftliche Interessen. Es wird schon fleißig gerätselt, wer nun gegen
wen rüstet? Rüstet Westeuropa auf, um den USA Paroli zu bieten, oder
richtet sich die westeuropäische Rüstung gegen Russland, oder kooperiert
Russland am Ende mit Westeuropa und sie rüsten gemeinsam gegen die USA,
oder rüsten die Staaten des Nordens - USA, Westeuropa und Russland - gegen
den Süden? Für jede dieser Theorien gibt es gute Argumente. Der gemeinsame
Nenner jeder dieser Szenarien ist, daß die Rüstungskonzerne reich und die
Bevölkerung durch die Finanzierung des Rüstungswettlaufes arm gemacht
wird. Weiters wissen wir spätestens seit dem Kalten Krieg, daß mit
Rüstungswettläufen die Welt nicht sicher gemacht, sondern eher an den Rand
des Abgrunds getrieben wird.
Und die Neutralen?
Gerade angesichts der Gefahren der neuen Aufrüstung braucht es Staaten, die
für aktive Friedenspolitik und Abrüstung stehen. Die Neutralität ist ein
gutes Instrument für eine solche Politik. Gerade die neutralen Ländern haben
die Aufgabe, in der EU der Sand im Getriebe der Militarisierung, die
BewahrerInnen einer zivilen EU, die Lobby für eine militärisch weitgehend
abgerüstete, atomwaffenfreie und nahezu von Rüstungsproduktion freie
Europäische Union zu sein. Die Neutralität ist dafür eine gute Grundlage.
Aber leider sollte ich es infolge der Rückgratlosigkeit vieler
PolitikerInnen der neutralen Staaten in der Möglichkeitsform schreiben. Es
ist bis jetzt leider nur ein schöner Traum. Immer wenn es mit dem nächsten
Schritt in Richtung Militärblock ernst wird, weichen die Neutralen zurück.
Die britische Regierung hat mit ihrer US-Hörigkeit viel mehr Verdienste im
Bremsen der EU-Militarisierung als alle neutralen Staaten zusammen.
Beschlüsse in Richtung weiterer EU-Militarisierung sind in Nizza nicht
zuletzt an Bill Clintons treuem Vasallen Tony Blair gescheitert.
Wurde von den sozialdemokratischen Bundeskanzlern österreichs die jeweilige
Zustimmung zur EU-Politik als taktische Rückzieher zur Bewahrung der
Neutralität verteidigt, ist die neue blauschwarze Regierung Vorreiter(in)
der EU Militarisierung. Wenn jetzt die österreichische Bundesregierung eine
neue Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin erarbeitet, ist es scheinbar
selbstverständlich, daß die Neutralität nicht mehr vorkommt, aber die
Umrüstung in Richtung Militärblock NATO oder militarisierter EU auf der
Tagesordnung steht. Spitzenbeamte des Verteidigungsministeriums wie der
FPöler Reiter können sich öffentlich rühmen, dass sie in ihrer
beruflichen Tätigkeit die Gesetze - nämlich das Bundesverfassungsgesetz
über die immerwährende Neutralität österreichs - brechen.
öffentliche Debatte statt "fertige Beschlüsse übernehmen"
Die Entscheidungen in der Europäischen Union fallen "weit weg von den
Bürgerinnen und Bürgern". Das ist kein geographisches Problem, sondern ein
politisches. Am deutlichsten wird es in der Wirtschaftspolitik: Es werden
Kriterien für eine gemeinsame Währung beschlossen, die eine Rotstiftpolitik
in allen öffentlichen Haushalten zur Folge haben. Die Währung startet mit
dem 1. Jänner 1999 mit fixen Wechselkursen zwischen den Euro-Ländern. Drei
Jahre bevor die Euro-Münzen und Euro-Scheine in den Geldbörseln der
EU-BürgerInnen liegen, ist damit der Euro Wirklichkeit. Wann gab es eine
Debatte über die neoliberale Ausrichtung, die mit dieser gemeinsamen
Währung verbunden ist? Wo steht ein kritisches Wort zur "Autonomie" der
Europäischen Zentralbank, die über die Währungspolitik, die das
wirtschaftliche Leben jedes einzelnen EU-Bürgers und jeder einzelnen
EU-Bügerin betrifft, OHNE Einfluss der demokratisch gewählten Parlamente
und der Regierungen der EU-Staaten entscheidet? Wer diskutierte über die
Sinnhaftigkeit der Privatisierung öffentlicher Betriebe wie Telefonnetze
und Eisenbahnen? Die Entscheidungen fallen offiziell bei den medienwirksam
aufbereiteten EU-Gipfeln der Staats- und Regierungschefs oder bei den
Treffen der jeweiligen FachministerInnen, vorbereitet von EU-Kommission, den
diversen Gremien und deren Bürokratie, beeinflußt von unzähligen Lobbies
der Wirtschaft, und werden dann in den einzelnen EU-Ländern nachvollzogen,
sprich ohne viel Gerede im nationalen Recht und in der nationalen Politik
umgesetzt. Genau diese Verschleierungstaktik wird bei der Umwandlung der
Europäischen Union in eine "atomar bewaffnete Supermacht" wieder einmal
angewandt.
So wichtig das Nein der Grünen und der Sozialdemokratie in Österreich zu
einem NATO-Beitritt ist, bleibt es nur glaubwürdig, wenn mit gleicher
Lautstärke auch ein Nein zu Militarisierung der Europäischen Union
ausgesprochen wird. Vor allem die österreichischen SozialdemokratInnen sind
bis auf sehr wenige Ausnahmen gegenüber den Gefahren der EU-Militarisierung
noch immer blind und taub. Die europäische Sozialdemokratie hat ebenso wie
die Grünen in Regierungsverantwortung ihre friedenspolitischen Grundsätze
verraten und für den Machterhalt verkauft.
Die Zeichen der Zeit erkennen
Am Heilig-Drei-König-Tag des Jahres 1999 kritisierte ein lieber Freund nach
dem Gottesdienst auf den Gollinger Kirchenplatz meine Rezension des Buches
von Ulrich Cremer "Neue NATO - neue Kriege": "Wie kannst Du nur behaupten,
die NATO würde Krieg führen? So ein Blödsinn schadet nur der Glaubwürdigkeit
der Argumente für die Neutralität." Hätte ein dritter oder eine dritte in
unserem Gespräch gesagt, "In wenigen Wochen, am 24. März 1999 wird die NATO
ohne UN-Sicherheitsratsbeschluss Jugoslawien bombardieren", hätte ich dem
heftig widersprochen. Ich hätte diese unglaublichen Horrorszenarien auf
keinen Fall an die Wand gemalt. Kassandra sagt in Christa Wolfs Buch: "Wann
der Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg?
Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein
eingraben, überliefern."
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