Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gespannte Ruhe an Sydneys Stränden

Eine Schramme im Bild vom multikulturellen Australien

Von Sebastian Krüger, Sydney*

Der Mythos vom multikulturellen fünften Kontinent ist beschädigt, seit Australien jüngst die schwersten rassistischen Krawalle seiner neueren Geschichte erlebte.

Sommerferien in Australien: Temperaturen über 30 Grad, kristallblauer Himmel und eine salzige Brise vom Meer. Um dies zu erleben, müssen die Bewohner Sydney ihre Stadt nicht verlassen: Über zwei Dutzend Strände säumen, wie an einer Perlenkette aufgereiht, die Küste im Stadtgebiet.

Der Strand von Cronulla, einer Vorstadt im Südosten, dehnt sich in einem eleganten, kilometerlangen Bogen. Auf dem harten Sandstreifen, den der Pazifik bei Ebbe freigibt, picken Möwen nach Würmern und Spaziergänger lassen sich die Füße vom Wasser lecken. Surfer sitzen auf ihren Brettern und warten auf eine gute Welle. Gelb-rote Fähnchen zeigen die sichere Badestelle an. Dort tollen Kinder in langärmligen Badeanzügen herum, Jugendliche werfen sich Rugbybälle zu. Urlauber liegen faul in der Sonne.

Die Rettungsschwimmer mit ihren gelb-roten Kappen sitzen reglos wie Leguane im Schatten ihres Häuschens und beobachten mit stoischer Ruhe das Meer. Sie sind die stillen Helden des Alltags, denn sobald jemand in den Wellen in Not gerät, werfen sie sich in die Brandung, um ihn zu retten. Die Sommer-Idylle trügt jedoch. Über dem Strand von Cronulla liegt gespannte Ruhe. Immer wieder stampfen Pferde mit Polizisten im Sattel durch den tiefen Sand, auf der Promenade patrouillieren deren Kollegen auf Mountainbikes. Von vielen Balkonen in der Gegend flattern australische Flaggen.

Polizisten auf Pferden und Mountainbikes

Im Dezember wurden eben hier zwei Rettungsschwimmer von libanesischen Jugendlichen verprügelt, weil sie denen das Fußballspielen am Strand untersagen wollten. Eine Woche später war der Strand Schauplatz der schwersten rassistischen Krawalle in der neueren Geschichte Australiens. Ein Mob von 5000 angetrunkenen weißen Australiern machte Jagd auf Jugendliche mit »nahöstlichem Aussehen«. So werden in der australischen Öffentlichkeit politisch-korrekt Menschen arabischer Herkunft bezeichnet. Rassistische Krawalle – ausgerechnet in der größten Stadt eines Landes, das gegenüber der übrigen Welt das Bild einer erfolgreichen multikulturellen Nation pflegt! Auf dem fünften Kontinent leben schließlich Menschen von allen anderen Kontinenten. Ein Viertel der 20,5 Millionen Australier wurde im Ausland geboren. Das trifft auch auf die 300 000 Libanesen zu, für die Australien nicht erst seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 1974 ein bevorzugtes Einwanderungsland ist.

»Sie kommen und belästigen unsere Mädchen«, sagt Mike Banton, ein 24-jähriger »surfie« mit langen, sonnenbleichen Haaren und einem T-Shirt, das die australische Flagge zeigt. »Sie benehmen sich einfach nicht so, wie es sich gehört. Sie haben vor nichts und niemandem Respekt und lassen ihren Müll am Strand zurück. Aber das hier ist unser Strand! Wir müssen ihn verteidigen!«

Die kleinen Wörtchen »wir« und »sie« werden groß geschrieben unter den Bewohnern der Sydneyer Küstenvororte. In einem Land, in dem 80 Prozent der Bevölkerung weniger als 50 Kilometer entfernt vom Meer wohnen, gilt der Strand als nationales Heiligtum. Das erfrischende Spiel mit den Wellen ist jedoch nicht alles: Ein »Tag am Strand« steht für Erholung, unbeschwerten Zeitvertreib und geselliges Beisammensein.

Doch längst nicht alle Bewohner können diesen Kult in gleicher Weise pflegen. Wie überall, so entscheidet auch in der Vier-Millionen-Metropole Sydney der Geldbeutel über die Wohnlage. Direkt an der Küste, in den noblen »eastern suburbs«, wohnen reiche, meist weiße Australier. Die weniger Wohlhabenden und vor allem die vielen Einwanderer aus Asien und der arabischen Welt wohnen in den »western suburbs», einem riesigen, oft eintönigen Siedlungsgebiet, das sich bis an den Fuß der Blue Mountains erstreckt, einem Gebirgszug in etwa 40 Kilometer Entfernung. Wohnraum ist umso billiger, je weiter entfernt er sich von der Küste befindet.

Im »Corner Club« wird arabisch gesprochen

Hitze flimmert über den Straßen von Bankstown, einer Vorstadt tief im Sydneyer Westen. Von vier- oder auch sechsspurigen Hauptstraßen zweigen im rechten Winkel schmale Wohnstraßen ab. Alle paar Meter haben sie Schwellen, um das schnelle Fahren zu verhindern. In Bankstown ähnelt Sydney einer Kleinstadt. Die Häuschen sind klein und flach, Jasmin blüht in den Vorgärten, die Zäune sind weiß oder brauchen bald wieder einen Anstrich. Auf der Straße stehen wuchtige 80er-Jahre-Limousinen und zerbeulte Lieferwagen.

An einer Kreuzung liegt der »Corner Club«, der nur von muslimischen Jugendlichen besucht wird. Drinnen ist es angenehm kühl. Trotzdem rinnt den jungen Männern, die hier trainieren, der Schweiß in Bächen vom Gesicht: Sie stemmen Gewichte im Akkord.

Hier wird arabisch gesprochen, englisch ist nur der Name des Clubs. Aber Shahin El-Masri lässt sich dazu herab, ein paar Worte englisch zu sprechen. Er ist ein imposanter, muskelbepackter Hüne mit kurzen krausen Haaren und einer tiefen Stimme. Für ihn gehört Rassismus zum Alltag. »Auf der Straße werden wir als ›Terroristen‹ beleidigt, nur weil wir arabisch sprechen. Meiner Schwester wurde das Kopftuch heruntergerissen.« Seit den Ausschreitungen ist die Polizeipräsenz im Viertel spürbar gestiegen. Fast täglich wird Shahin El-Masri angehalten. Er muss sich ausweisen und Fragen über Woher und Wohin beantworten. Außerdem wollen sie jedesmal sein Mobiltelefon sehen, um es nach Hetz-SMS zu durchsuchen. »Manchmal kommt es mir vor, als sitzen wir alle auf einem Vulkan, der nur mit einem Pappdeckel verschlossen ist. Ich habe es jedenfalls satt, mich ständig anpöbeln zu lassen.» Abends und am Wochenende steigen er und seine Freunde in ihre tiefer gelegten Toyotas und Hondas, um in die Küstenvororte zu fahren und ihren Anteil am australischen »Way of Life« auszuleben: Zeitvertreib am Strand oder in den Cafés entlang der Promenade. Am Zielort, beispielsweise in Cronulla, treffen die Jugendlichen ganzer Großfamilien zusammen – empfangen von hitzköpfigen einheimischen Strandbesuchern wie Mike Banton.

Sean Cassidy ist ein 42-jähriger Surf-Veteran mit dunkler Lederhaut und Spiegelbrille. Seine Füße scheinen mit den Badelatschen fest verwachsen zu sein. »Streit am Strand gibt es, solange ich denken kann«, sagt er. »Testosteron, Alkohol und Hitze. Irgendwann rutscht dir die Hand aus.« In der Tat ist die Geschichte von Auseinandersetzungen lang. Bereits in den 60er Jahren stritten sich in Cronulla und anderswo einheimische »surfies« und damals »rockies« genannte Jugendliche aus dem Westen der Stadt. »Früher beschwerten sich die Leute, wenn man zu knappe Badehosen trug. Oder wenn es zu lange dauerte, bis der öffentliche Grill wieder frei war. Die Surfer regen sich über die Rettungsschwimmer auf, wenn sie genau die Stelle mit den besten Wellen zur Badezone erklären. Und untereinander streiten sie sich, wer welche Welle reiten darf.« Cassidy tippt sich an die Stirn. Allerdings, gibt er zu, so einen Gewaltausbruch wie neulich hat er noch nie erlebt.

Mehr als 20 Menschen wurden verletzt, 200 vorübergehend festgenommen. 100 Autos wurden demoliert. Die Medien hatten plötzlich Stoff genug, das Sommerloch zu stopfen. Schon die ersten Handgreiflichkeiten zwischen Rettungsschwimmern und libanesischen Jugendlichen wurden aufgegriffen – insbesondere von 2UE und 2GB, zwei Radiosendern, die mit ihrem »Talkback-Radio«-Konzept hohe Popularität genießen. Unzensiert können da Hörer die Todesstrafe für Drogendealer, die Ausweisung aller Muslime oder Zwangsarbeit für Homosexuelle fordern. Auch diesmal machte sich Volkes Seele Luft, und dazu verlasen die Moderatoren Hetz-SMS rechter Gruppen, mit denen zu jener »Demonstration des Stolzes« aufgerufen wurde, aus der am 11. Dezember schließlich die »hässliche Fratze des Rassismus« hervorschaute.

John Howard, konservativer Premier Australiens, hat in zehnjähriger Amtszeit noch nie seine Stimme gegen Rechts erhoben. Immerhin gewann er auf diese Weise die Anhänger der rechtsradikalen Partei »One Nation« zurück, deren Stimmenanteil im Bundesstaat Queensland zeitweilig 20 Prozent erreichte. Außenpolitisch machte Howard den fünften Kontinent zum willfährigen Partner der USA; so sind in Irak rund 1000 australische Soldaten im Einsatz. Zu den Ausschreitungen am Strand von Cronulla äußerte sich Howard erwartungsgemäß sehr zurückhaltend: Er schrieb sie einem Gemisch aus jugendlichem Elan, Alkohol und Hitze zu.

Kein Rassismus auf dem fünften Kontinent?

Dass es »in diesem Land einen unterschwelligen Rassismus gibt«, bestritt der Regierungschef. Daraufhin präsentierte der »Sydney Morning Herald«, eine der führenden Tageszeitungen, eine Umfrage, nach der 75 Prozent der australischen Bevölkerung genau das Gegenteil glauben.

Inzwischen ist in Cronulla scheinbar wieder Normalität eingekehrt. Ob Sonnenanbeter, Schwimmer oder Surfer – jeder nutzt den Strand auf seine Weise. Nur die Polizisten auf Pferden und Mountainbikes erinnern daran, dass das Bild vom multikulturellen Australien mindestens eine Schramme davongetragen hat.

* Aus: Neues Deutschland, 3. Januar 2006


Zurück zur Australien-Seite

Zur Rassismus-Seite

Zurück zur Homepage